Digitale Souveränität – Ein Problemaufriss

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In einer kürzlich erschienenen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik zeigt Daniel Voelsen zwei Szenarien für die Zukunft globaler Internet Governance auf. Im Szenario „Globale Oligopole“ geht er davon aus, dass für den weltweiten Empfang des Internets drei Satellitenkonstellationen aufgebaut werden – zwei davon unter der Führung der USA und Großbritannien, eine als chinesisches Projekt. Dies führe zu einer „enormen Konzentration wirtschaftlicher Macht“ und habe auch politische Folgen (Voelsen 2021, 6):


Die Verfügbarkeit der Dienste orientiert sich an politischen Konfliktlinien. Im Ergebnis verstärkt sich der Trend zur Fragmentierung des Internets. Die Betreiber der Konstellationen und die dahinterstehenden Staaten können genau steuern, wie Daten innerhalb der jeweiligen Systeme und zwischen diesen ausgetauscht werden. Die Staaten Europas, und damit auch Deutschland, sind in diesem Szenario kaum noch in der Lage, die Nutzung digitaler Infrastrukturen an eigenen politischen Interessen und Ordnungsvorstellungen auszurichten.

Dies ist eines der Szenarien, welche die „Digitale Souveränität“ von Staaten berührt. Nicht nur autoritäre Länder, sondern auch liberale Demokratien suchen verstärkt nach Mechanismen zur Kontrolle des Internets und versuchen das Konzept der Souveränität auf den digitalen Raum zu übertragen (Stadnik 2021, 147). Ein Treiber dieses Ansatzes ist die Angst vor Kontrollverlust und Satelliten-Internet stellt eine weitere Eskalation innerhalb dieses Kampfes um Hoheit im Netz dar. Der Gegenentwurf zu den expansiven Bemühungen einiger mächtiger Länder ist der Rückzug anderer ins Lokale. Immer mitgedacht dabei ist der folgende Wunsch (Tesch 2016, 195):


Der Staat erlangt die hoheitliche Kontrolle über das Internet im eigenen Lande und schützt Bürger und IT-Infrastruktur vor dem Zugriff durch andere Staaten. Die Idee von „digitaler Souveränität“ ist eng mit der Hoffnung auf umfassende Sicherheit für die eigenen Bürger, die heimische Wirtschaft und den Staat selbst verbunden

Doch was heißt eigentlich „Digitale Souveränität“ und wie lässt sich dieses Konzept mit der klassischen Idee von Souveränität in Einklang bringen? Welche Akteure spielen eine Rolle? Und wie interagieren diese im globalen Zusammenhang? Zuerst lohnt sich ein Blick auf Staaten als Gebilde. Diese verfügen „über erkennbare und fixierte Grenzen, zumindest beanspruchen sie einen fest umrissenen Raum“ (Krell/Schlotter 2017, 23) und staatliche Souveränität wird auf ein bestimmtes Territorium bezogen gedacht. Staatliche Grenzen kennzeichnen rechtliche und territoriale Einheiten, welche sich wiederum an den physisch-geografischen Grenzen anderer Staaten orientieren (Kukkula/Ristolainen 2018). Staatliche Souveränität wird verstanden, als die Unabhängigkeit eines Staates gegenüber anderer Staaten (externe Souveränität) und als seine übergeordnete Macht alle Subjekte innerhalb des eigenen Territoriums zu befehligen (interne Souveränität) (Haric/Grüblbauer 2016, 169).


Crucial to all of these meanings is a geographical specification, that is, the restriction of sovereignty to a specific territory, which is seen as a functional prerequisite for authority to be exercised effectively
Julia Pohle und Thorsten Thiel
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(Pohle/Thiel 2020, 3)

Ein zweiter Blick muss das Internet, den Cyberspace oder die Cybersphere in den Fokus nehmen. Und dieser zeigt, dass sich hier zunehmend ein neuer geopolitischer Raum etabliert – ein „Space“, welcher sich radikal von den bekannten physisch-geografischen Räumen unterscheidet (Hong/Goodnight 2020, 10 und Kukkula/Ristolainen 2018). Vor allem wegen dieser neuartigen Gestalt wird das Internet durch staatliche Führungen als eine zunehmende Bedrohung bestehender Strukturen wahrgenommen. Digitale Belange erfahren deshalb eine immer stärkere Politisierung. Insbesondere weil die neuen Anforderungen, die an das politische System gestellt werden, „nicht oder nicht sofort durch allgemeinverbindliches Entscheiden“ erfüllt werden können, aber gleichzeitig innerhalb des politischen Systems zwischen relevanten Akteuren Konsens darüber besteht, dass Entscheidungen getroffen werden müssen (Czerwick 2011, 149 und Veddern 2016, 334). Es stellte sich die Frage: Ist das Internet regierbar und wenn, dann wie?

Vordergründig stehen häufig eine neoliberal orientierte Hegemonie der USA – insbesondere der US-Geheimdienste und Unternehmen – im Internet und der Aufstieg des technokratischen China zur Debatte und „cyberspace is increasingly seen as a place where nation-states compete for power“ (Mueller 2017, 11). Hieraus folgten in den letzten Jahren lautstarke Forderungen, den globalen Fluss von Informationen zu regulieren. Unternehmen sollten vermehrt Nutzerdaten jeweils in dem lokalen Rechtsraum speichern. Weiterhin wurde angestrengt, dass staatliche Stellen und sonstige Nutzer sich vermehrt auf lokale Email- und Cloud-Anbieter statt ausländische Unternehmen und Services stützen können (ebd., 12). Übergeordnet geht es dabei um die Frage, wer an der konkreten Politikgestaltung zum Netz teilhaben kann und welche eindeutigen Regelungen mit den Entscheidungen innerhalb der einzelnen Schauplätze einhergehen (Santaniello 2021, 22ff.).

Grundsätzlich lässt sich daraus ableiten: Das Feld Internet Governance ist eine neue, immer stärker diskursiv bearbeitete Konfliktzone zwischen unterschiedlichsten Akteuren auf staatlicher und nichtstaatlicher Ebene. Es ist eine Herausforderung für alle Beteiligten, insbesondere wegen des Ungleichgewichts zwischen seinem globalen Fokus und den eher lokal ausgerichteten politischen und rechtlichen Institutionen, die hierzu Antworten finden müssen. Im Vergleich zu dem allumspannenden Internet ist die Struktur der Staaten territorial fragmentiert und auf Souveränität ausgerichtet. Digitale Transformation und die globale technische Infrastruktur fordern diese Souveränität jedoch heraus (Pohle/Thiel 2020, 2). Internetkommunikation und digitale Technologie im Allgemeinen sind geografisch ungebunden. IT-Standards und Produktionsstrukturen sind zunehmend globalisiert und haben Netzwerkcharakter (Mueller 2017, 123).


There is a fundamental misalignment between a unified cyberspace and the far more fragmented legal and institutional mechanisms humans have devised to govern themselves

(ebd., 11)

Digitale Souveränität als Konzept sollte deshalb von der rein territorialen Ebene gelöst und weiter verstanden werden (Friedrich/Bisa 2016, 1). Souveränität war in der Moderne eng mit der Entstehung von Nationalstaaten verbunden, aber in „einer globalisierten und in jeder Hinsicht eng vernetzten Welt ist der alte nationalstaatliche Souveränitätsbegriff längst überholt. […] Um den berechtigten Wunsch der Anwender nach Sicherheit und Schutz ihrer Daten zu erfüllen, ist es vielmehr notwendig, das nationalstaatliche Denken des 20. Jahrhunderts zu überwinden und nach supranationalen Vereinbarungen zu suchen“ (Tesch 2016, 196). Digitale Souveränität kann jedenfalls nicht nur über das Territoralverständnis souveräner Nationalstaaten erklärt und umgesetzt werden, sondern hat viele weitere Facetten.

In der politischen Diskussion wird dennoch – insbesondere durch autoritäre Staaten – immer wieder die Frage aufgeworfen, wie und ob innerhalb des digitalen Raumes neue Praktiken für Grenzziehungen etabliert und welche Institutionen, Strukturen und Aktivitäten hierbei eingezogen werden können. Wie kann digitale Souveränität – verstanden als digitale Selbstbestimmung – geschützt werden? (Werden 2016, 35) Ist es möglich und notwendig, in der eigentlich grenzenlosen digitalen Sphäre Grenzen neu zu setzen? Können und sollten nationale Segmente des Cyberspaces von anderen unterschieden werden? (Kukkula/Ristolainen 2018) Und wie soll damit umgegangen werden, dass aktuell das Governance-Format des Internets einen Multistakeholder-Fokus hat und zunehmend nicht-staatliche Akteure wie Akademiker, Aktivisten, Unternehmer und Techniker mit einschließt? Letzteres Modell wird gerade von aufsteigenden Staaten kritisiert, da es Macht und Privilegien einiger großer Unternehmen und dominanter Länder stützt und andere marginalisiert (Haggart/Scholte/Tusikov 2021, 3).

Gerade Unternehmen sind neben Staaten ein weiterer wichtiger Akteur in der Debatte um Internet Governance und auch diese agieren längst nicht mehr nur in lokal begrenzten Gebieten. Eine Welle des „Techno-Feudalismus“ ersetzt aktuell den Kapitalismus, da große Technologie-Unternehmen oftmals darauf abzielen, ganze Märkte zu monopolisieren (Jelinek 2021, 16). Digitale Assets sind zum größten Teil in privater Hand und damit wirtschaftlicher Handlungslogik ausgesetzt. Profile über Nutzer werden von multinationalen, globalisierten Unternehmen und Staaten kreiert, besessen und ausgebeutet. Wir befinden uns im Übergang vom modernen ins digitale Zeitalter, welches uns dazu zwingt, das tradierte Verständnis von Souveränität zu überdenken. Es herrscht insoweit Einigkeit: Modern-analoge Souveränität ist noch notwendig, aber zunehmend unzureichend. Zeitgenössische digitale Souveränität wird gebraucht um effektive, staatliche Kontrolle durch angemessene Regulierung zu ermöglichen (Floridi 2020, 372).

Auch wenn „Digitale Souveränität“ in der Europäischen Union und westlichen Staaten ebenfalls zunehmend als ein politisch-strategisches Ziel priorisiert wird, kommt in der Diskussion hier die Befürchtung hinzu, dass es aufgrund des isolatorischen Handelns von autoritären Staaten wie China, Russland und dem Iran zu einer Fragmentierung oder Balkanisierung des Internets in verschiedene „Splinternets“ kommt. Dies begründet sich vor allem im unterschiedlichen Verständnis davon, was digitale Souveränität eigentlich konkret heißt und welche Handlungsoptionen und Zukunftshorizonte sich daraus ableiten lassen. Doch die Angst vor einer Zersplitterung des Netzes in viele nationale Teilnetze geht in eine falsche Richtung und lenkt von der Frage ab, ob es zu einer Neuorientierung im digitalen Raum mit einer größeren Kontrolle der Kommunikation im Internet über die zuständigen nationalen Ränder kommen kann. Hierfür wird angeführt, dass das Internet im weiteren Sinne schon immer fragmentiert war, da es aus vielen autonomen Systemen besteht, und im engeren Sinne durch die Bindung an IP-Adressen wiederum global aufgestellt ist (Mueller 2017, 17 und 21).


By invoking the term fragmentation, some critics of data sovereignty often make it sound as if their opponents are proposing to eliminate connectivity among networks or cut their country off from the Internet entirely. This is rarely if ever the case, even when we are talking about so-called ‚national Internets‘

(ebd., 29)

All diese Aspekte sollen in diesem Blog zur Sprache kommen. Dabei wird der Fokus auf der Europäischen Union und den Länder China, Russland und Iran liegen.


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Quellen

Czerwick, Edwin. Politik als System – Eine Einführung in die Systemtheorie der Politik. München: Oldenbourg Verlag, 2011.

Floridi, Luciano. „The Fight for Digital Sovereignty: What It Is, and Why It Matters, Especially for the EU.“ In: Philosophy & Technology 33, 2020, 369-378.

Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter. „Einführung – Analyse der digitalen Souveränität auf fünf Ebenen“. In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 1 – 6.

Haggart, Blayne; Scholte, Jan Aart; Tusikov, Natasha. „Introduction – Return of the State?“ In: Haggart, Blayne; Tusikov, Natasha; Scholte, Jan Aart (Hrsg.). Power and Authority in Internet Governance – Return of the State? London und New York: Routledge, 2021, 1 – 12.

Haric, Peter; Grüblbauer, Johanna. „Geopolitische Herausforderungen digitaler Souveränität im neo-imperialen Zeitalter und die Bedeutung von Qualitätsmedien.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 169 – 176.

Hong, Yu; Goodnight, G. Thomas. „How to Think about Cyber Sovereignty: The Case of China.“ In: Chinese Journal of Communication 13 (1), 2020, 8 – 26.

Jelinek, Thorsten. „Mapping Europe’s Digital Sovereignty Strategy: The EU-China-US Triangle.“ < http://www.taiheinstitute.org/Content/2021/03-29/1454031342.html > 2021. (29.05.2021).

Krell, Gert; Schlotter, Peter. „Weltordnungskonzepte in den Internationalen Beziehungen.“ In: Sauer, Frank; Masala, Carlo (Hrsg.). Handbuch Internationale Beziehungen. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS, 2017, 21 – 49.

Kukkola, Juha; Ristolainen, Marie. 2018. „Projected territoriality: A case study of the infrastructure of Russian ‚digital boders‘.“ In: Journal of Information Warfare 17 (2), 2018, 83 -100.

Mueller, Milton. Will the Internet Fragment? Sovereignty, Globalization, and Cyberspace. Cambride, Malden: Polity Press, 2017.

Pohle, Julia; Thiel, Thorsten. „Digital sovereignty.“ < https://doi.org/10.14763/2020.4.1532 > 2020. (10.06.2021).

Santaniello, Mauro. „From governance denial to state regulation – A controvert-based typology of internet governance models.“ In: Haggart, Blayne; Tusikov, Natasha; Scholte, Jan Aart (Hrsg.). Power and Authority in Internet Governance – Return of the State? London und New York: Routledge, 2021, 15 – 36.

Stadnik, Ilona. „Russia – An independent and sovereign internet?“ In: Haggart, Blayne; Tusikov, Natasha; Scholte, Jan Aart (Hrsg.). Power and Authority in Internet Governance – Return of the State? London und New York: Routledge, 2021, 147 – 167.

Tesch, Henrik. „Jagd auf eine Illusion.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016,195 – 204.

Veddern, Michael. „Digitale Souveränität und europäische Öffentlichkeit … oder warum es eines neuen Zeitalters der europäischen Aufklärung bedarf.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 333 – 349.

Voelsen, Daniel. „Internet aus dem Weltraum – Wie neuartige Satellitenverbindungen die globale Internet-Governance verändern können.“ < https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2021S02_SatellitenInternet.pdf >. 2021 (09.06.2021).

Werden, Stefan. „Digitale Souveränität, ein Orientierungsversuch.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 35 – 51.


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