Zensur oder digitale Souveränität? Wie die Türkei einen neuen Umgang mit sozialen Medien sucht

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Im Juli 2021 wurde der im Exil lebende türkische Journalist Erk Acerer in seinem Haus in Berlin von drei unbekannten Tätern angegriffen und misshandelt. Er solle nie wieder schreiben, wurde ihm von den Angreifern noch mit auf den Weg gegeben. Acerer lies danach auf Twitter verlauten, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Typ Erdoğan und der AKP-Regierung gehandelt habe. Schon in der Türkei sei er wegen seiner kritischen Berichterstattung immer wieder angegriffen worden. Er werde sich dem „Faschismus“ jedoch nie ergeben, weiter als Journalist arbeiten und „niemals aufgeben“. Der Reporter war 2017 aus der Türkei nach Deutschland gekommen, weil ihm und anderen Journalisten dort ein Prozess drohte. (Salmen 2021)

Bis zu 95 Prozent der konventionellen Medien wie Zeitungen und Fernsehen befinden sich in der Türkei unter Regierungskontrolle. Weltweit ist die Türkei eines der Länder, in denen am häufigsten Journalisten verhaftet werden. Eine Studie hat außerdem kürzlich ergeben, dass Google bei der Verbreitung von Informationen in der Türkei systematisch regierungsnahe Medien wie Hürriyet, Milliyet und Sabah bevorzugt. (Meinardus 2021)

Deshalb hat sich unter Aktivisten, Regierungskritikern und Oppositionspolitikern eine rege Social-Media-Nutzung etabliert. Plattformen wie Twitter, Facebook oder YouTube werden zur Kommunikation von alternativen Ideen und zur Vernetzung mit Gleichgesinnten genutzt. (Sari 2020, Bellut 2021) Die Türkei ist heute ein hochvernetztes Land mit 63 Millionen Internetnutzern im Jahr 2020. Bei der täglichen Verweildauer im Internet liegt das Land weltweit unter den Top 15. (Meinardus 2021) Insbesondere das Medium Twitter spielt eine herausragende Rolle für viele Türken. So wenden sich zum Beispiel viele Nutzer mit entsprechenden Hashtags an ihre Community, wenn sie das Gefühl haben, im lokalen Justizsystem nicht weiterzukommen. Vor allem die Themen Gewalt, Frauenrechte und Tierwohl wurden so bereits intensiv online diskutiert. (Karabat 2020)

In den letzten Jahren hat die türkische Regierung jedoch einige Maßnahmen vollzogen, um dieses Ökosystem zu unterwandern. Laut Ömer Çelik, Sprecher der regierenden AKP-Partei, seien Social-Media-Plattformen eine Quelle „digitalen Faschismus“ und „digitaler Diktatur“. Sie würden eine Gefahr für die Souveränität des Landes darstellen. Ursprünglich entstanden als Plattformen der Freiheit, hätten sich soziale Medien zu Mechanismen gewandelt, die den nationalen Willen herausfordern – „sie kollidieren mit dem nationalen Willen, der Souveränität des Landes und dem Gesetz“. Präsident Erdoğan hatte soziale Medien vorab bereits mehrfach als eine Bedrohung für die nationale Sicherheit bezeichnet. (Stockholm Center for Freedom 2021)

Bereits im Sommer 2020 wurde deshalb ein neues Gesetz erlassen, welches Social-Media-Plattformen reguliert. Eine Änderung des Mediengesetzes Nummer 5651 legt fest, dass Plattformen, welche von mehr als einer Millionen Menschen täglich besucht werden, einen lokalen Repräsentanten in der Türkei abstellen müssen. Falls dies nicht geschieht, hat die türkische „Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien“ das Recht, Werbeverbote auszusprechen und die Bandbreite der Plattformen um bis zu 95 Prozent zu drosseln. Dies kommt einer Blockierung der Webseiten gleich. Weiterhin werden hohe Strafen erhoben, falls die Plattformbetreiber den behördlichen Anfragen zum Löschen von Inhalten nicht innerhalb weniger Stunden nachkommen beziehungsweise nicht alle drei Monate einen Bericht einreichen oder Daten türkischer Nutzer außerhalb der Türkei speichern.(ebd.)

Gerade Letzteres ist ein Vorgehen, mit welchem sich die Türkei in eine Reihe vieler weiterer Länder einreiht. Zunehmend versuchen Staaten weltweit souveräne Kontrolle über die Daten ihrer Nutzer zu erlangen und zu regulieren, wie diese genutzt werden, wer Zugang dazu hat, wo die Daten gespeichert werden und wohin sie fließen dürfen. In Folge wurden in den letzten Jahren viele Gesetze erlassen, welche die sogenannte „Datenlokalisierung“ oder „Datenresidenz“ regeln. Dies heißt grundsätzlich, das Daten, welche durch Bürger eines Landes generiert werden, innerhalb der nationalen Grenzen des Landes gespeichert werden müssen. Kritik an diesem Vorgehen gibt es deshalb, weil es angeblich zu einer zunehmenden Fragmentierung des Internets in nationale Netze führen könnte. Weiterhin bestünde die Gefahr, dass lokale Geheimdienste besseren Zugriff auf die Daten bekommen und diese für Überwachung und Repressionen nutzen könnten. (Tager 2021)

Ausgangspunkt für die Gesetzesänderung in der Türkei waren einige beleidigende Tweets über Präsident Erdoğans Schwiegersohn und dessen Frau, als diese ihr viertes Kind zur Welt brachte. Nach dem Vorfall forderte das türkische Regierungsoberhaupt eine „Säuberung“ von Social-Media-Plattformen – er hatte sich allerdings bereits mehrfach vorab über eine mögliche Kontrolle geäußert. (ebd.)

Vorlage für das Gesetz sei angeblich das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) gewesen, so türkische Regierungsvertreter. Dieses wurde 2017 verabschiedet, um gegen Hassrede, Fake-News und illegale Inhalte vorgehen zu können. Die Argumente der türkischen Regierung: Ihr eigenes Gesetz sei angelehnt an das NetzDG und entspreche deshalb allgemein anerkannten und damit legitimen Prinzipien. Schon bei der Verabschiedung in Deutschland war das NetzDG jedoch umstritten und es wurde (zu Recht) befürchtet, es könnte als Vorlage für autoritäre Regierungen dienen. So weisen Staaten wie Russland und Venezuela das NetzDG ebenfalls als Rechtfertigung für Zensurmaßnahmen im Internet aus. (Sari 2020, Emert/Wölbert 2020) Dies zeigt deutlich, wie das Streben nach digitaler Souveränität durch liberale Demokratien als argumentative Waffe durch Staaten mit Defiziten bei der Rechtsstaatlichkeit genutzt wird. (Kargar 2020)

In der Türkei ist die Gesetzesinitiative auf jeden Fall von Erfolg gekrönt. Anfang 2021 gab Facebook bekannt, dass das Unternehmen eine Repräsentanz im Land eröffnen wolle. Gleiches war bereits durch YouTube, LinkedIn und TikTok in die Wege geleitet worden. Zu diesem Zeitpunkt weigerten sich nur noch Twitter, Periscope und Pinterest, ein lokales Büro in der Türkei einzurichten. Die türkische Regierung untersagte daraufhin jedoch türkischen Unternehmen, Werbung auf den Plattformen zu schalten. Vorher hatte das Land eine Strafe von jeweils 5,43 Millionen US-Dollar für jedes der sich weigernden Social-Media-Netzwerke erlassen. Deshalb gab Twitter im Frühjahr des Jahres bekannt, ebenfalls eine lokale Niederlassung in der Türkei zu etablieren. Auch Pinterest hat seit 2021 eine Vertretung im Land.(Avenarius 2021, Yackley 2021, Ergöçün 2021) Twitter lies verlauten, dass es „die Stimmen und die Daten“ der türkischen Nutzer schützen werde. Menschenrechtsgruppen sehen dieses Versprechen aber als nicht erfüllbar an. (Meinardus 2021)

Laut „Freedom of Expression Association“ haben die türkischen Behörden im Monat nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über 450.000 Domains, 120.000 Internet-Links und 42.000 Tweets blockiert. (ebd.) Insgesamt sind in der Türkei also mehr als 450.000 Webseiten nicht zugänglich und das Land zählt zu den Ländern, welche am häufigsten Löschanfragen für Inhalte auf Twitter und Facebook stellen. Facebook hat bereits Gruppen zensiert, welche die türkische Regierung ablehnt, um sein Geschäft im Land zu schützen. (Yackley 2021) Twitter wiederum folgt auch bei seinem Handeln in der Türkei einer wirtschaftlichen Logik, die die Interessen des Einzelnen den Geschäftsinteressen unterordnet. (Wilson/Hahn 2021) Währenddessen nutzen mehr als ein Drittel der Türken Twitter und Facebook als ihre primäre Informationsquelle. (Yackley 2021)

Auch Wikipedia war in der Türkei ab 2017 für zwei Jahre nicht zugänglich. Ausgangspunkt war ein Artikel auf der Plattform, welcher angab, dass türkische Regierungsvertreter in Ölgeschäfte mit dem Islamischen Staat verwickelt waren. Der oberste Gerichtshof des Landes entschied jedoch 2019, dass das Blockieren von Wikipedia einen Verstoß gegen die freie Meinungsäußerung darstellt und der Bann wurde in Folge aufgehoben. (McKernan 2019)

Bereits 2014 – kurz nach den Gezi-Protesten – hat die türkische Regierung ein Gesetz erlassen, welches es erlaubt, Webseiten ohne Gerichtsurteil zu blockieren. YouTube wurde in der Folge ein zweites Mal gesperrt. Schon 2007 hatte die Türkei den Zugang für drei Jahre blockiert. Grund für die Sperre im Jahr 2014 waren geleakte Audioaufnahmen einer geheimen Konversation verschiedener türkischer Repräsentanten und Geheimdienstmitarbeiter über einen möglichen militärischen Eingriff in Syrien. Diese wurden von einem anonymen Account auf YouTube veröffentlicht. Die türkische Regierung wertete dies als einen „nationalen Sicherheitsvorfall“. Vorab waren bereits weitere Aufnahmen auf sozialen Medien veröffentlicht worden, welche massive Regierungskorruption und Präsident Erdoğans direkten Einfluss auf die Medien zeigten. (Letsch/Rushe 2014)

Wegen der Website-Sperren nutzten viele Türken zunehmend Umgehungsoftware wie VPNs oder das Tor-Netzwerk, um dennoch auf Inhalte zugreifen zu können. Die türkische Regierung sorgte deshalb Ende 2016 dafür, dass solche Tools im Land nicht mehr nutzbar sind. Internetanbieter wurden dazu gedrängt, den Zugang zum Tor-Netzwerk und zu VPN-Angeboten zu sperren. Durch „Deep Packet Inspection“ werden seitdem Tor- oder VPN-Verbindungen identifiziert und die Nutzung unmöglich gemacht. (Haase 2016)

Grundlegend für die Regulierung von Netzinhalten in der Türkei ist jedoch das Gesetz 5651 – „Gesetz über die Regulierung von Veröffentlichungen im Internet und die Bekämpfung von Straftaten, die durch diese Veröffentlichungen begangen werden“. Dieses wurde bereits 2007 erlassen. Ziel war anfänglich vor allem die Bekämpfung von Kinderpornografie im Netz. Später kamen das Anbieten von Glücksspiel sowie Drogen, Beleidigungen des Türkentums und jegliche Form von Pornografie, Prostitution und Homosexualität hinzu. Neben YouTube wurden unter anderem die Webseiten von Alibaba und WordPress blockiert. Gerade letztere Plattform war ein wichtiges Werkzeug der lokalen Bloggerszene. Das Gesetz 5651 wurde seit seinem Inkrafttreten mehrfach durch sogenannte Zusätze erweitert. (Wendt 2015)

Auch im Jahr 2021 trieb die türkische Regierung ihre strenge Regulierung der sozialen Medien weiter voran. Nach Medienberichten plant sie die Einführung von Freiheitsstrafen zwischen ein und fünf Jahren für das Veröffentlichen und Verbreiten von Fake-News auf Social-Media-Kanälen. Laut Präsident Erdoğan arbeitet seine Partei an einem Gesetz, welches den „Terror der Lügen“ bekämpfen soll. (Bianet 2021)

Schaut man sich die Entwicklungen in der Türkei genauer an, so wird deutlich, dass digitale Souveränität durch lokale Gesetze durchaus sehr restriktiv etabliert werden kann. In vielen Ländern des Nahen Ostens, wie zum Beispiel Iran oder Saudi-Arabien gibt es ähnliche Vorgehensweisen und Ziele. Digitale Souveränität wird hier verstanden als Kontrolle über die Infrastruktur von Telekommunikations- und Informationstechnologien innerhalb des jeweiligen Territoriums, ebenso wie über die durch die Bürger produzierten Daten. Dabei wird das Bild einer nationalen Vision des Internets heraufbeschworen – ein Trend der nicht immer mit der globalen Architektur des Internets kompatibel erscheint. Die Idee der digitalen Souveränität bildet hier die Vorlage für staatliche Versuche, Inhalte, welche den Bewohnern zu konsumieren erlaubt sind, auszuwählen oder sogar selbst zu produzieren. Häufig resultiert dies in Desinformation und Propaganda. (Kargar 2020)

Ausgehend von der politischen Argumentationslogik sind die Unterschiede zu liberalen Demokratien – zum Beispiel in Europa – jedoch gar nicht so groß. In beiden Fällen ist der Ausgangspunkt für mehr Streben nach digitaler Selbstbestimmung die Angst vor einer zu großen Abhängigkeit von großen Tech-Unternehmen aus den USA oder China. Diese, so die Befürchtung, würden nach technischer und wirtschaftlicher Dominanz im Cyberspace streben, die es durch den Schutz von Souveränität im Internet zu unterbinden gelte. Mittel zum Zweck sind sowohl für liberale Demokratien, wie auch für Länder wie die Türkei, Datenlokalisierung, Internetregulationen und die Überwachung von großen Social-Media-Plattformen. Dies führt dazu, dass Länder mit Defiziten bei der Rechtsstaatlichkeit sich in ihren Bemühungen um die Einschränkungen freier Meinungsäußerung im Internet auf Gesetze und politische Strategien in demokratischen Staaten beziehen und so ihr Handeln legitimieren.(ebd.)

Dabei resultiert die grundlegende Idee von digitaler Souveränität von autoritären staatlichen Führern – diese bedienten sich früh dem Konzept, um die Rechte ihrer eigenen Bürger einzuschränken. Sie bezogen sich dabei auf das Element eines privilegierten Staates, welches wiederum digitale Repression rechtfertigte. Diese autoritären Staaten haben bis zum heutigen Zeitpunkt nicht nur lokal ihr Verständnis von digitaler Souveränität umgesetzt – sie drängen auch auf internationaler Ebene darauf. Dabei machen es sich Regierungen wie zum Beispiel in China oder Russland zunutze, dass der Begriff der digitalen Souveränität noch immer so vieldeutig ist und werben in globalen Foren für eine neue, staatszentrische Vision der Internet Governance. (Tager 2021)

In den letzten Jahren haben allerdings auch die Regierenden demokratischer Staaten das Konzept aufgegriffen – unter anderem in der Europäischen Union. Hieraus ergeben sich global viele verschiedene Modelle von digitaler Souveränität. Jedes dieser Konzepte ist wiederum von unterschiedlichen lokalen Vorstellungen zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und stabilen öffentlichen Institutionen geprägt. Grundlegend ergibt sich hieraus das Problem, dass Gesetze mit teilweise ähnlichem Wortlaut in verschiedenen Regionen unterschiedlich umgesetzt werden – je nachdem, ob es zum Beispiel ein funktionierendes System der Gewaltenteilung gibt oder eben nicht, beziehungsweise welche politische und gesellschaftliche Kultur und Moralvorstellungen vorherrschen. Es stellt sich nun die Frage, wie diese Ansätze auf internationaler Ebene miteinander konkurrieren und welche Sicht langfristig globale Organisationen der Internet Governance prägen wird.(ebd.)

Gerade in der COVID-19-Pandemie haben global die Bemühungen zugenommen, Online-Inhalte zu regulieren. So verhält es sich auch in der Türkei. In den Monaten seit dem ersten bekannt gewordenen Infektionsfall im Land wurden mehr als 1.000 Social-Media-Nutzer beschuldigt, Propaganda für eine Terror-Organisation zu machen – einschließlich dem „Teilen von provokativen Corona-Virus-Posts“. Von ihnen wurden mehr als 500 verhaftet. Unter ihnen waren auch Journalisten, die diverse Artikel zur Corona-Lage im Land verfasst oder Meldungen dazu auf ihren sozialen Plattformen geteilt hatten. Ebenso gerieten türkische Ärzte in das Visier der Regierung und wurden das Ziel von Ermittlungen, weil sie die Gesundheitspolitik des Landes kritisierten. (Amnesty International 2020)

Die Türkei ist mit diesem Vorgehen nicht alleine. Eine Studie des International Center for Not-for-Profit Law hat mehr als 50 Fälle identifiziert, bei denen Länder Erweiterungsgesetze oder Strategien eingeführt haben, welche Desinformation kriminalisieren oder die freie Meinungsäußerung im Zuge der Pandemie einschränken. Meist geht es in diesen Regelwerken um die digitale Sphäre. (Tager 2021)

In einer Pressekonferenz Ende 2020 gab Präsident Erdoğan bekannt, dass das Thema Cybersicherheit untrennbar mit der Digitalisierung verbunden sei und dass es eines der wichtigsten Themen des Landes für die nächsten Jahre sein werde. Eine zunehmende Zahl an Cyber-Bedrohungen gehe mit der Digitalisierung einher – einschließlich der Gesundheitsbildung. Der Schutz der digitalen Infrastruktur und der Daten des Landes sei inzwischen ebenso wichtig wie der Schutz der nationalen Grenzen. Die Türkei arbeite am Aufbau einer starken und wehrhaften Infrastruktur durch die Entwicklung eigener Cybersicherheits-Technologien. Es sei das Ziel des Landes, Technologien zu steuern und die souveränen Rechte in jedem Gebiet „vom blauen Heimatland bis zum Cyberspace“ zu verteidigen. (Presidency of the Republic of Türkiye 2020)

Hier finden sich eindeutig Referenzen zur Idee der digitalen Souveränität wieder, auch wenn diese als Begriff bisher kaum in den Veröffentlichungen der türkischen Regierung genutzt wird. Es stellt sich die Frage, wie es in den nächsten Jahren in der Türkei weitergehen wird. Werden Institutionen wie der oberste Gerichtshof weiterhin Einhalt gebieten, wenn sie einen unrechtmäßigen Eingriff in das hohe Gut der Meinungsfreiheit erblicken? Wird die türkische Regierung eine nationale Strategie der digitalen Souveränität entwickeln? Und wenn, wie wird diese aussehen? Wird sie sich eher dem chinesischen Vorbild nähern oder dem Mittelweg, den die Europäische Union gerade beschreitet? Wird die Türkei auch auf internationaler Ebene aktiv und wirbt für ein Konzept der nationalen Unabhängigkeit im Cyberraum?

Bisher engagiert sich die Türkei international eher für ein Multistakeholder-Modell der Cyber Governance, was den Idealen der chinesischen Regierung entgegensteht. Weiterhin zeigt sich das Land offen für die Anwendung des internationalen Rechts auf den Cyberraum und unterstützt internationale Governance-Einrichtungen. Die Türkei hat bereits an einigen regionalen und internationalen Informations- und Kommunikationstechnologie-Initiativen teilgenommen. (Eldem 2019)

Es lohnt sich auf jeden Fall, diese Geschehnisse zu beobachten und abzuwarten, ob man das Land weiterhin nur als einen Raum der Internetzensur abstempeln sollte. Bisher sind die Pressestimmen noch skeptisch – es bleibt aber abzuwarten, welche gesetzlichen Rahmenbedingungen unter Präsident Erdoğan in den nächsten Jahren noch kommen werden, wie mit Kritik von Außen umgegangen wird und ob die Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit im Land ihr Übriges tut. Auf der Liste des „World Justice Project“, welches die Lage der Rechtsstaatlichkeit in 128 Ländern untersucht, kam die Türkei 2020 auf den 107. Platz. (Karabat 2020) Auch in einem aktuellen Bericht der Organisation „Freedom House“ gilt die Türkei als „nicht frei“ im Internet und wird in diesem Zusammenhang als europäisches Schlusslicht gelistet. (Jangiz 2021)


Video-Empfehlung: Körber Stiftung – Pressefreiheit in der Türkei: Wenn Journalisten zu Terroristen erklärt werden (2021)

Lese-Empfehlung: Wilson, Jeffrey und Hahn, Ashley. „Twitter and Turkey: Social Media Surveillance at the Intersection of Corporate Ethics and International Policy“ In: Journal of Information Policy(11), 2021, 444 – 477.


Quellen

Amnesty International. „Turkey: Stifling free expression during the COVID-19 pandemic.“ < https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2020/06/turkey-stifling-free-expression-during-the-covid19-pandemic/ > 2020. (03.01.2022).

Avenarius, Tomas. „Türkei will Twitter trockenlegen.“ < https://www.sueddeutsche.de/digital/facebook-tuerkei-twitter-gesetze-social-media-netzwerke-1.5179247 > 2021 (29.12.2021).

Bianet. „Turkey: One to five years in prison for spreading ‚fake news‘ on social media?“ < https://ifex.org/turkey-one-to-five-years-in-prison-for-spreading-fake-news-on-social-media/ > 2021. (30.12.2021).

Eldem, Tuba. „The Governance of Turkey’ Cyberspace: Between Cyber Security and Information Security.“ In: International Journal of Public Administration(43), 2020, 452-465. < https://doi.org/10.1080/01900692.2019.1680689 >

Emert, Monika und Wölbert, Christian. „Immer mehr Länder zensieren das Internet systematisch.“ < https://www.heise.de/ct/artikel/Immer-mehr-Laender-zensieren-das-Internet-systematisch-4635826.html > 2020. (30.12.2021).

Ergöçün, Gökhan. „Pinterest agrees to hire local representative in Turkey.“ < https://www.dw.com/en/turkish-government-increases-pressure-on-social-media/a-59134848 > 2021. (29.12.2021).

Haase, Till. „Türkei sperrt Tor-Zugang – Die nächste Stufe der Zensur.“ < https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/tuerkei-die-naechste-stufe-der-internet-zensur > 2016. (03.01.2022).

Jangiz, Khazan. „Internetfreiheit: Türkei Schlusslicht Europas.“ < https://www.mena-watch.com/internetfreiheit-turkei-ist-das-schlusslicht-europas/ > 2021. (03.01.2022).

Karabat, Ayşe. „Twitter als letzte Hoffnung.“ < https://de.qantara.de/inhalt/justiz-und-soziale-medien-in-der-tuerkei-twitter-als-letzte-hoffnung > 2020. (03.01.2022).

Kargar, Simin. „The Perils of Digital Sovereignty.“ < https://filter.watch/en/2020/12/22/the-perils-of-digital-sovereignty/ > 2020. (03.01.2022).

Letsch, Constanze und Rushe, Dominic. „Turkey blocks YouTube amid ‚national security‘ concerns.“ < https://www.theguardian.com/world/2014/mar/27/google-youtube-ban-turkey-erdogan > 2014. (02.01.2022).

McKernan, Bethan. „Turkey’s Wikipedia block violates human rights, high court rules.“ < https://www.theguardian.com/world/2019/dec/26/turkish-court-wikipedia-block-lifted > 2019. (30.12.2021).

Meinardus, Ronald. „Recep Tayyip Erdogans Kontrolle über den digitalen Raum.“ < https://de.qantara.de/inhalt/soziale-medien-in-der-tuerkei-recep-tayyip-erdogans-kontrolle-ueber-den-digitalen-raum > 2021. (03.01.2022).

Presidency of the Republic of Türkiye. „We will defend our sovereign rights in every area from the blue homeland to cyberspace.“ < https://www.tccb.gov.tr/en/news/542/123400/-we-will-defend-our-sovereign-rights-in-every-area-from-the-blue-homeland-to-cyberspace- > 2020. (03.01.2022).

Salmen, Ingo. „Erdogan-Kritiker Erik Acerer in Berlin angegriffen.“ < https://www.tagesspiegel.de/berlin/ich-kenne-die-taeter-erdogan-kritiker-erk-acarer-in-berlin-angegriffen/27402386.html > 2021. (30.12.2021).

Sari, Mehmet Şafak. „What’s Behind Turkey’s New Internet Law?“ < https://tr.boell.org/en/node/21327 > 2020. (23.12.2021).

Stockholm Center for Freedom. „Social media platforms pose threat to Turkey’s sovereignty: ruling party spokesman.“ < https://stockholmcf.org/social-media-platforms-pose-threat-to-turkeys-sovereignty-ruling-party-spokesman/ > 2021. (03.01.2022).

Tager, James. „Splintered Speech – Digital Sovereignty and the Future of the Internet.“ < https://pen.org/report/splintered-speech-digital-sovereignty-and-the-future-of-the-internet/ > 2021. (03.01.2022).

Wendt, Johannes. „Die Regierung zensiert sich das Netz zurecht.“ < https://www.zeit.de/digital/internet/2015-06/tuerkei-internet-zensur-wahlen/komplettansicht > 2015. (02.01.2022).

Wilson, Jeffrey und Hahn, Ashley. „Twitter and Turkey: Social Media Surveillance at the Intersection of Corporate Ethics and International Policy“ In: Journal of Information Policy(11), 2021, 444 – 477. < https://www.jstor.org/stable/10.5325/jinfopoli.11.2021.0444 >

Yackley, Ayla Jean. „Turkey’s social media law: A cautionary tale.“ < https://www.politico.eu/article/turkeys-social-media-law-a-cautionary-tale/ > 2021. (31.12.2021).

3 Gedanken zu „Zensur oder digitale Souveränität? Wie die Türkei einen neuen Umgang mit sozialen Medien sucht“

    • Hallo liebe Monika Hartweg!
      Vielen Dank für Ihre positive Rückmeldung. Es freut mich, dass Ihnen mein Blog gefällt. Eventuell werde ich mich in den nächsten Wochen einmal etwas ausführlicher mit der Ukraine und ihrer Cyberabwehr beschäftigen. Viele Grüße. Anne Hellmuthhäuser

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