Digitale Souveränität: Der Kampf um das staatliche Territorium und Autorität im digitalen Raum

Folgenden Text habe ich als Paper für eine Konferenz zum Thema „Practicing Sovereignty. Interventions for open digital futures“ des Weizenbaum Instituts eingereicht. Er wurde leider nicht angenommen, aber ich möchte es gern meinen Lesern zur Verfügung stellen. Hier die Review, die ich zum Text erhalten habe: „This paper is well structured and written and focussing on sovereignty and territoriality is an interesting approach that would have fitted the track. But the paper does not engage sufficiently with the rather large body of work on digital sovereignty that already uses this angle, but sticks to a rather theoretical literature.“

Einleitung

Die digitale Netzwerkschicht umspannt heute den gesamten Globus, von Berlin über Washington, Peking bis in entlegene afrikanische Landstriche. Menschen auf der ganzen Welt kommunizieren und interagieren täglich miteinander und tauschen so Milliarden von elektronischen Bits und Bytes miteinander aus. Die Welt scheint zusammengerückt zu sein, zu einem Raum mit Verknüpfungen bis in die kleinste lokale Ebene hinein. Auch heute schwingt noch oft der Traum aus den frühen Tagen des Internets mit: Grenzenlos soll das Netz sein – verbunden mit unendlicher Freiheit für den Einzelnen und – ganz wichtig – unabhängig von staatlicher Einmischung (vgl. Barlow 1996).

Doch genau hier bekommt die Vision der Internetpioniere Risse. Denn die Staaten beanspruchen Schritt für Schritt einen bestimmenden Platz im globalen Netzwerk. Nachdem das Internet in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre zu einem allgemeinen Gut avancierte und die Prozesse der Globalisierung und der Zerfall der Sowjetunion zu einer Debatte um eine entgrenzte postnationale Welt geführt hatten, nimmt seit einigen Jahren die Diskussion um den Schutz des staatlichen Territoriums und der darin lebenden Bürger im digitalen Raum zu. „Digitale Souveränität“ ist das neue Stichwort der Stunde. Staaten wollen nun Kontrolle über das Netz ausüben und ihre Autorität bezüglich der Daten- und Informationsströme sichern.

Ideen zur Territorialität des souveränen Staates spielen also zunehmend wieder eine tragende Rolle. Grenzen und Beschränkungen erscheinen erneut auf der politischen Agenda. Doch wie lässt sich das globale digitale Netzwerk mit den lokalen Ambitionen von Staaten vereinbaren? Wie sind diese Verbindungen über nationale Räumlichkeitsbeschränkungen hinweg zu fassen? Und in welcher Beziehung stehen Staaten in diesem neuen Kontext nun zueinander?

Digitale Souveränität und Territorialität

Mit dem Aufkommen des Internets hat die Debatte um Territorialität und Souveränität eine neue Dimension gewonnen. Digitale Infrastrukturen und Märkte sind ein zunehmend globales Phänomen. Es stellt sich die Frage, inwieweit dieser neue Raum aus staatlicher Perspektive betrachtet werden soll. Handelt es sich beim Internet um ein sogenanntes „Global Commons“, oder kann es auf nationale Territorien begrenzt gedacht und reguliert werden?

Der Cyberspace kann neben den realen Räumen Land, See, Luft und Weltraum als fünftgrößter strategischer Raum verstanden werden. Kontrolle im Bereich Cybersicherheit ist ein wichtiger Aspekt der nationalen Sicherheit für viele Länder geworden. Dabei umfasst der Cyberraum physische Elemente wie Netzinfrastruktur, Hardwaregeräte und virtuelle Elemente wie Softwaresysteme und Informationsflüsse. All dies kann nicht getrennt vom geografischen Raum existieren. (Chundong et al. 2020, 1950)

Digitale Souveränität wird in den meisten Veröffentlichungen nicht eindeutig definiert. An dieser Stelle soll ein vorläufiger Versuch unternommen werden. Digitale Souveränität kann als oberste staatliche Autorität innerhalb des Cyberspaces eines real-geografischen Raums verstanden werden. Dies schließt die Kontrolle von Daten und Informationsflüssen, aber auch der entsprechenden Infrastruktur, Software und Hardware mit ein. Digitale Souveränität ist also die rechtliche und administrative Oberhoheit über den digitalen Raum auf einem bestimmten staatlichen Territorium. Sie betrifft dabei die politisch-rechtliche Struktur eines Landes, wie auch die lokal angesiedelten und agierenden Unternehmen und den individuellen Bürger.

Um die einleitend gestellten Fragen beantworten zu können, ist ein Blick auf die Geschichte des Konzepts „Souveränität“ und seiner Wechselwirkung mit der Idee eines territorial gebundenen Staates erhellend. Auch wenn in aktuellen Publikationen zu digitaler Souveränität die Wechselbeziehung zwischen Souveränität und Territorialität häufig aufgegriffen wird, so fehlt es meist an einer dezidierten und tieferen Auseinandersetzung. Doch wenn wir von einem Dualismus zwischen dem entgrenzten Cyber-Raum und der räumlich beschränkten Welt der modernen Staaten ausgehen, so ist die Frage entscheidend, wo wir ideengeschichtlich in der Diskussion aktuell stehen und wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Ausgehend davon können dann Konzepte für eine digitale Souveränität von Staaten entwickelt werden.

Ursprünge des Souveränitätskonzeptes

Wann genau man von einem Verständnis von Souveränität sprechen kann, darüber wird in der Wissenschaftsgemeinschaft der internationalen Beziehungen eine rege Diskussion geführt. Einige Autoren sind der Meinung, dass ein modernes Konzept von Souveränität – welches sowohl interne als auch externe Souveränität berücksichtigt – ein Produkt von Denkern des 18. Jahrhunderts ist. Andere Autoren wiederum nehmen zwar an, dass Souveränität ein eindeutig modernes politisches Phänomen ist, bestehen aber darauf, dass diese keinen Bruch im politischen Denken darstellt. Vielmehr handele es sich um eine Weiterverarbeitung einer jahrhundertelangen mittelalterlichen Tradition philosphischer Ideen über den Ort, die Quelle und den Charakter höchster Autorität. Auf diese Weise erscheint Souveränität nicht als eine radikale neue Erfindung, sondern als ein Konzept mit einer langen Geschichte, die bis ins späte 11. Jahrhundert zurückreicht. (vgl. Latham 2018a, 495f.)

Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass es noch vor einer Definition des Begriffs Souveränität bereits gesellschaftliche Entwicklungen und politisches Denken gab, welche ohne ein festes Konzept Grundzüge der Souveränität formulierten. Nach Jens Bartelson lässt sich diese als „oberste Autorität innerhalb eines Gebiets“ definieren. Hieraus zieht er den Schluss, dass zu untersuchen sei, wann sich die beiden Begriffe „oberste Autorität“ und „Territorium“ herauskristallisierten und wann ihnen dann zusätzliche Anforderungen wie Unabhängigkeit und rechtliche Anerkennung hinzugefügt wurden. (vgl. Bartelson 2018, 510)

Schaut man sich die Literatur etwas genauer an, dann zeigt sich, dass sich die Ursprünge des Gedankens von oberster Autorität sogar bis in das Römische Reich zurückverfolgen lassen. Bereits damals schrieb der Jurist und Philosoph Ulpian, „was dem Herrscher gefällt, hat Gesetzeskraft“ und „der Herrscher ist nicht gesetzlich gebunden“. (Paris 2020, 458; Latham 2018b and Armstrong 2017, 4) Diese Interpretation hallte dem Römischen Reich noch lange nach – auch in das frühe Mittelalter. Laut Andrew Latham ist die Kristallisation der Souveränität ein komplexes Phänomen, das nicht erst im späten Mittelalter begann, sondern mit der Wiedereinführung des römischen Rechts in die lateinische Christenheit im späten 11. Jahrhundert. (Latham 2018b)

Nach Latham gab es – anders als in der wissenschaftlichen Diskussion der internationalen Beziehungen oft ausgeführt – lange vor dem Westfälischen Frieden von 1648, nämlich bereits im Spätmittelalter, eine konkrete Vorstellung von Souveränität. Diese ging so weit, dass das Nebeneinander von souveränen Königreichen, beziehungsweise Fürstentümern, als konstituierenden politischen Einheiten als ein „internationales System“ betrachtet werden kann – bestehend aus souveränen „Staaten“. Diese interagierten in Abwesenheit einer übergeordneten weltlichen und geistlichen Autorität, das heißt formell in Anarchie. Dabei betont Latham, dass sich das mittelalterliche Verständnis von Souveränität natürlich von seinem modernen Gegenstück unterscheidet, ebenso wie die Eigenschaften des mittelalterlichen „Staates“ von seinen früh- oder hochmodernen Pendants. (Latham 2019 and Latham/Werbos 2020)

Latham zeigt auch auf, dass sich später Thomas Hobbes, Jean Bodin und weitere moderne Denker auf die Vorstellung von Souveränität, die aus der Debatte zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert entstand, bezogen. Diesem Konzept zufolge lag die Souveränität weder beim Papst noch beim Kaiser, sondern beim König. Bodin sah die oberste Macht ebenfalls beim König – als „letzte Quelle der Autorität und Rechtssprechung“ im weltlichen Bereich. (Latham 2019) Im Unterschied zur mittelalterlichen Vorstellung jedoch, schrieb er, der Souverän besitze „höchste Macht über Bürger und Untertanen, die nicht durch Gesetze eingeschränkt ist“. Damit legte seine Vorstellung von zentralisierter und im Wesentlichen unbegrenzter Souveränität nicht nur die theoretischen Grundlagen für den modernen Staat, sondern auch für den Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts. (Paris 2020, 458)

Hervorstechende Begriffe in Bodins Veröffentlichung sind „absolut“ und „immerwährend“. Laut ihm ist Souveränität weder in ihrer Macht, noch in ihrem Auftrag oder ihrer Zeit begrenzt. (Beaulac 2003, 13ff.) Diese Gedanken bildeten die Grundlage für das, was lange als Souveränität angesehen wurde – Bodin lieferte die erste theoretische Definition des Begriffs. Laut einigen Kommentatoren bestand sein Beitrag jedoch nicht darin, dass er das Konzept erfunden hat. Vielmehr fasste er in seinem Werk eine Vielzahl von Ideen, die sich etwa zwischen 1075 und 1400 entwickelt hatten, zu einem einzigen Konzept zusammen, das er „Souveränität“ nannte. (Andrew 2011; Beaulac 2003, 25; Armstrong 2017, 5f.; Nicholls 2018, 47f. und Latham 2018a, 496)

Dieses wurde in Folge zu einem neuen Leitbild der europäischen Fürsten. Ihr Streben nach Autorität setzte einen Veränderungsprozess politischer Herrschaft in Gang. Aus diesem ging als neue Herrschaftsform der Staat hervor – auch wenn dieser Prozess bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nirgends zum Abschluss kam. Die neuen Konzepte Staat und Souveränität trennen die moderne Epoche vom Mittelalter. Beide Begriffe hingen eng miteinander zusammen. „Von Souveränität sprach man, wo es einem Herrscher gelang, die intermediären Gewalten zu entmachten und die verstreuten Herrschaftsrechte zur einheitlichen öffentlichen Gewalt zu verdichten. Ein Gemeinwesen, das dies erreicht hatte, galt als Staat“ (Grimm 2009, 27).

Herausbildung des Territorialgedankens und der linearen Grenze

Jens Bartelson ist der Meinung, dass sich sowohl im Mittelalter, wie auch in der frühen Neuzeit bereits Ideen von übergeordneter Autorität herausbildeten, dass ihnen aber ein konkreter Bezug zu Territorialität fehlte. (Bartelson 2018, 512) Auch Saskia Sassen arbeitet dies in ihrem Werk heraus. Laut ihr ist das Territorium im mittelalterlichen Europa weit weniger bedeutsam als die Autorität. Es gewinnt aber mit der Entstehung des modernen Nationalstaates an Bedeutung und erreicht im 20. Jahrhundert seine formale Vollkommenheit. (Sassen 2013, 23)

Dabei ist die Zeit kurz nach dem Westfälischen Frieden noch lange durch eine „asymmetrische“ Qualität von Territorium und staatlicher Autorität gekennzeichnet. Erst seit dem modernen Staat und seiner vollständigen Verwirklichung tritt das heutige Verständnis zu dem Rechtskonstrukt der Territorialität als formales Kriterium hervor. Damit ist Territorialität als rechtliches Konstrukt eine relativ junge Entwicklung, die mit der Entstehung der modernen kartographischen Wissenschaft und der normativen Ideologie einer rationalen Regierung zusammenhängt. (ebd., 25f.)

Kerry Goettlich verortet die tatsächliche globale Linearisierung von Grenzen im späten 19. Jahrhundert. Seitdem sei davon ausgegangen worden, dass Territorien unabhängig von Ort und Kontext lineare Grenzen haben müssen, die idealerweise aus präzisen eindimensionalen Punkten auf der Erdoberfläche bestehen, die durch gerade Linien verbunden sind. Dabei definiert er Territorium aus drei Aspekten bestehend: der Klassifizierung nach Gebieten, der sozialen Kommunikation über diese Gebiete und der Behauptung der Kontrolle über diese Gebiete. Ohne die Betrachtung und Definition von Grenzen, so Goettlich, sei es schwierig zu definieren, was genau mit „territorialer Souveränität“ gemeint sei. (Goettlich 2018, 3)

Globalisierung und Entgrenzung – Visionen einer global verflochtenen Gesellschaft

Vor allem Ende der 1990er Jahre mündete die Diskussion um die zunehmende Globalisierung in der Idee, dass Raum, Grenzen und die Nationalstaaten immer mehr an Bedeutung verlieren würden. Grund hierfür waren eine Zunahme des internationalen Austausches von Waren, Dienstleistungen und Informationen, das Anwachsen globaler Kapitalmärkte und die grenzüberschreitende Migration. Die Gedanken vieler Autoren gingen in Richtung einer entgrenzten und deterritorialisierten Welt und prophezeiten sogar ein nahendes Ende von Nationalstaaten. (Schroer 2021, 57f.; Albert/Mahlert 2017, 25; Hermann/Vasilache 2021, 82 und Dalton 2019) Das Konzept eines vermehrt relationalen Verständnisses von Räumlichkeiten wurde durch die Globalisierung mit ihren Strömen und Vernetzungen neu geebnet. (Paasi 2019) Von den frühen systemtheoretischen Gedanken Niklas Luhmanns zu einer vom Territorium entkoppelten „Weltgesellschaft“ (Luhmann 2021), über Knichi Ohmaes „grenzloser Welt“ des Konsums und der Informationsflüsse (Ohmae 1989 und 1996), bis hin zu Manuel Castells „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2017) – viele Autoren diskutierten bis zum Millennium die zunehmende Entgrenzung der Welt und die Auflösung staatlicher Grenzen.

Auch Saskia Sassen argumentiert, dass die Bedeutung und Funktion staatlicher Grenzen zunehmend schwankend ist. Laut ihr findet durch die Globalisierung und Digitalisierung teilweise eine Entnationalisieren dessen statt, was historisch als national konstruiert wurde. Dadurch entsteht eine Verunsicherung der Bedeutung geografischer Grenzen. Auch wenn Staaten einerseits die Befugnis hätten, Vorschriften festzulegen und durchzusetzen, werde dieser staatliche Apparat heute teilweise entflochten. Es entstünden neue Grenzverläufe, die größtenteils außerhalb des Rahmens des zwischenstaatlichen Systems liegen. Dabei betont Sassen, dass die Globalisierung tief in das Innere des Nationalstaates eingreift und eine neue Form der Autorität hervorbringt, die eine Mischform, also weder vollständig privat noch vollständig öffentlich, weder vollständig national noch vollständig global ist. (Sassen 2005, 525ff.)

Wenn man staatliche Souveränität als ein Monopol der Autorität über ein bestimmtes Territorium versteht, so zeigt sich nach Sassen, dass die nationalen Territorien zwar nach wie vor entlang der alten geografischen Grenzlinien abgegrenzt sind, dass aber gleichzeitig neuartige, aus der Globalisierung resultierende Grenzverläufe innerhalb des nationalen Territoriums zunehmend präsent sind. Souveränität sei deshalb zwar nach wie vor eine systematische Eigenschaft, doch ihre institutionelle Verankerung und ihre Fähigkeit zur Absorption aller legitimierenden Macht sei instabil geworden. Damit sei die Politik der zeitgenössischen Souveränität zu komplex, um sie mit der Vorstellung sich gegenseitig ausschließender Territorien zu erfassen. (ebd., 535 und Sassen 2009, 567f.)

Fest steht: Der Diskurs über die Globalisierung hat zu einem neuen Blickwinkel auf Territorien geführt. Grenzen werden nun vielfach aus einer „postnationalen“ Perspektive betrachtet. Laut James W. Scott könnte dies den Blick auf neue Form der territorialen Souveränität öffnen, die auf geteilte politische Verantwortlichkeiten zwischen Staaten und dem Entstehen neuer territorialer und kultureller Identitäten beruht. Die Entwicklung multinationaler Zonen wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit seien dabei Ausdruck der globalen Kräfte, die das Weltsystem der Einzelstaaten umstrukturieren. Weiterhin könnten postnationale Grenzen auch auf neue Formen der territorialen Souveränität angewendet werden, die Staatlichkeit ohne traditionelle Formen der externen Anerkennung reproduzieren. (Scott 2017, 11)

Renaissance der Grenzen, ihre Wandelbarkeit und ihre soziale-moralische Funktion

Laut Markus Schroer zeigt sich am aktuellen Weltgeschehen, dass grundsätzlich nicht mehr von einer Öffnung der Welt und einer Deterritorialisierung die Rede sein kann. Das Gegenteil sei der Fall: Grenzziehungen nähmen wieder zu. Gleichzeitig kehre jedoch der Nationalstaat nicht in seiner alten Form zurück. Grenzen seien nie territorial statisch gewesen. Vielmehr sei es wichtig, deren stetigen Wandel zu beobachten. So würden Grenzen heute nicht unbedingt einer Abschottung von Territorien dienen, sondern Selektionsaufgaben erfüllen – sie kontrollieren zum Beispiel Migrationsgeschehnisse, sind aber auch für die Regelung von Warenverkehr zuständig. Weiterhin gäbe es nicht nur territoriale, sondern auch soziale Grenzen, welche von Staaten und Gruppen gezogen werden würden. (Schroer 2021, 61f.) „Wer Kämpfe um Territorien für ein vormodernes […] Phänomen gehalten hat, wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir es auch weiterhin und offenbar mit zunehmender Intensität mit der Besetzung und Verteidigung von Territorien zu tun haben werden […]“ (Schroer 2021, 63).

Auch Goetz Herrmann und Andreas Vasilache sind der Meinung, dass ein nur auf staatliche Territorialität fixiertes Verständnis von Grenzen unzureichend ist. Grenzen, Räume und Territorien seien das Resultat von mannigfaltigen Diskursen und Praktiken, durch die die Grenzen als politische und physische Räume konstituiert und Räume territorialisiert werden. Grenzen haben also „sozialen Konstruktionscharakter“. Dabei hätten Grenzen – auch nach Luhmann – eine wissensbasierte Differenzierungsfunktion. Sie unterscheiden und konstituieren epistemische und politische Geltungsbereiche voneinander. Diese Sichtweise weist über das reine Territorialverständnis von Grenzen hinaus und nimmt auch „politisch-institutionelle Grenzziehungen“ in den Blick, „denen ein geografischer Raumbezug fehlt“ (Herrmann/Vasilache 2021, 70f.).

Grenzen seien umkämpfte, vielschichtige Sets von sozialen Praktiken, Institutionen, Symbolen und politischen Objekten, so Anssi Paasi. Ihr politischer, rechtlicher, sozialer, moralischer und psychologischer Fußabdruck schwanke sowohl in der Zeit als auch im Raum und spiegele Ideologien und Macht wieder. Grenzen seien in ideologischen Diskursen oft umstritten und würden in ihrer Begrifflichkeit konstruiert und reproduziert. Dabei haben Grenzen, laut Paasi, auch hochmoralischen Charakter. So seien gerade staatliche Grenzen mit der moralischen Ordnung von Ideologien und Emotionen verbunden und erhielten zum Beispiel Nationalismus und Rassismus aufrecht. (Paasi 2019)

Schlussfolgerung

Spätestens seit der Entstehung des modernen Nationalstaates sind begrenzte Territorien der Rahmen in welchem konzeptionell die Einflusssphären von Herrschaft gedacht werden. Doch die Geschichte der Idee von staatlicher Souveränität zeigt, dass dies nicht immer der Fall war. Oberste Autorität und Territorialität hingen mitnichten immer zusammen. Beides kann unabhängig voneinander gedacht werden. Weiterhin sind Grenzen zunehmend flexibel und werden zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich konstruiert.

Was lässt sich daraus für „Digitale Souveränität“ ableiten? Zuerst muss vielleicht die zuvor vorläufig vorgeschlagene Definition von digitaler Souveränität unter dem Aspekt von Territorialität kritisch betrachtet werden. Der Nationalstaat mit seinen physischen Grenzen kann zukünftig eventuell nicht der einzige Bezugsrahmen sein, in welchem ein solches Konstrukt gedacht wird. Dennoch stellt sich hier wiederum die Frage, ob dies nicht eine sehr eurozentrische Perspektive ist. Länder wie Russland und China bestehen jedenfalls sehr eindringlich auf ihre staatlichen Grenzen, wenn es um die Governance im Cyberraum geht.

In eine Forschungsagenda zu digitaler Souveränität sollten diese Aspekte mit einbezogen werden. Wie definieren Staaten ihren jeweiligen Herrschaftsraum im Bezug auf das Internet in nationalen Strategien und Politiken? Wie versuchen sie, diese Sichtweise in internationalen Foren zu bewerben und umzusetzen? Welche öffentlichen Denkansätze zum eigenen Standpunkt werden deutlich und wie wird die Debatte um geografische Vorherrschaft politisch, ideologisch und moralisch geführt? Wie werden Grenzen im Cyberraum diskursiv konstruiert? Welche Maßnahmen – zum Beispiel durch Gesetzgebungsprozesse und Regulierungen – werden getroffen, um externe und interne Souveränität bezogen auf den Cyberraum zu wahren? Ein globaler Blick darauf, wie digitale Souveränität verstanden wird, sollte all diese Aspekte tiefer berücksichtigen – etwas, was die aktuelle, stark durch westliche Sichtweisen geprägte Forschung, häufig vermissen lässt.

Geht man davon aus, dass sich digitale Souveränität auf ein Territorium bezieht, so sollten die damit verbundenen Prozesse eine jeweilige Klassifizierung des Gebietes, die soziale Kommunikation über diese Gebiete und die Behauptung der Kontrolle über diese Gebiete einschließen (ähnlich auch in Atzili/Kadercan 2017, 120ff. vorgeschlagen). Ebenso sollten sowohl die interne, wie auch die externe Souveränität betrachtet werden und es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Beziehung zwischen Globalisierung und Souveränität vielschichtig ist (vgl. hierzu ausführlich Agnew 2018).

Der Cyberraum ist sowohl ein lokales, wie auch ein globales Phänomen und wird deshalb nicht nur innerhalb von Staaten, sondern auch in internationalen Foren auf zwischenstaatlicher Ebene diskutiert. Generell scheint es durch das Internet an einigen Stellen zu einer neuen geteilten Verantwortlichkeit zwischen den Staaten gekommen zu sein – möglicherweise auch zu neuen territorialen und kulturellen Identitäten und Allianzen, wie das Beispiel Europäische Union deutlich macht.

Die Diskussion um digitale Souveränität zeigt aber auch: Kämpfe um staatliche Territorien finden weiterhin statt. Sie haben sich auch in den digitalen Raum verlagert. In der Debatte werden Grenzen und geografische Räume neu ausgeleuchtet und konstruiert. Dabei gibt es weltweit sehr unterschiedliche Ansätze und es ist noch nicht ganz klar, wie flexibel die jeweiligen Grenzziehungen sein werden. Die Beschaffenheit der digitalen Infrastruktur könnte auf jeden Fall auch zu einer Zersplitterung von Autoritäten über geografische Grenzen hinweg führen. Digitale Souveränität müsste dann eventuell noch einen Schritt weiter – über das staatliche Territorium hinaus – gedacht werden. Die Ideengeschichte zu Souveränität zeigt, dass dies möglich ist.

Das Digitale jedenfalls ist noch immer ein globaler Raum, auch wenn es teilweise zu Fragmentierungen durch neue Grenzziehungen kommt. Diese beiden Aspekte theoretisch zu erfassen und zusammenzubringen, das wird die Aufgabe einer aktuellen Wissenschaftsagenda zu digitaler Souveränität sein.

Quellen

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