Wieder ein Internetverbot unter der Taliban?

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„Wir sind nicht gegen das Internet, aber es wird benutzt, um Obszönitäten, Unmoral und Propaganda gegen den Islam zu verbreiten“ – so wird der Außenminister des Taliban-Regimes, Wakil Akhmed Mutawakil, im Jahr 2001 zitiert. Zu diesem Zeitpunkt beherrschten die Taliban noch 90 Prozent Afghanistans.

Afghanen verfügten kaum über Telefonverbindungen. Im ganzen Land gab es geschätzt nur 50.000 Telefonanschlüsse. Fernsehen, Videos, Musik und Kino waren nicht erlaubt. Und dann verbaten die Taliban eben auch noch das Internet – sogar ihren eigenen Behörden. Ein Zugang bestand zu diesem Zeitpunkt allerdings sowieso nur über Mobiltelefone und Satellitenverbindungen (Heise Online 2001 und Rötzer 2002).

Geschichte des Internets in Afghanistan

Rund ein Jahr später – nach der westlichen Invasion in Afghanistan – hatte sich die Situation im Bezug auf digitalen Zugang in Afghanistan immens verbessert. Im Januar 2002 richtete der Mobilfunkanbieter Ericsson zusammen mit dem „World Food Program“ der UNO für Kabul ein Mobilfunknetz ein. In mehreren Städten wurden außerdem Internetcafés geplant. Zu Beginn war dies der einzige Zugang für die meisten Afghanen, da Internet zu Hause unerschwinglich für sie war. Neben Internetcafés erhielten Büros und Universitäten Computer. Im Jahr 2003 wurde Afghanistan die rechtliche Kontrolle über die „.af“-Domain erteilt (OpenNet Initiative 2007, Rötzer 2002 und Quarizada 2016).

Fast zwanzig Jahre später – im Jahr 2021 – gibt es 8,64 Millionen Internetnutzer in Afghanistan. Das sind rund 22 Prozent der Bevölkerung. Die meisten Nutzer greifen mit ihrem Mobiltelefon auf das Internet zu. 2012 hatte es mit dem Durchbruch von Smartphones auch einen Anstieg der Nutzerzahlen in Afghanistan gegeben. Hauptsächlich junge Menschen aus der Mittel- und Oberschicht bewegen sich vor allem mit ihrem Handy im Netz. Laptops oder Desktop-Computer nutzen nur rund 27,7 %. Auch aktuell haben wenige Menschen Internet über Kabel zu Hause (Datareportal 2021 und Quarizada 2016).

Die noch immer geringe Nutzerzahl lässt sich vor allem durch die niedrige Alphabetisierungsrate und die hohen Kosten erklären. Nur 43 Prozent der über 15-Jährigen Afghanen können Lesen und Schreiben, bei den Frauen sind es nicht einmal ein Drittel. Die Kosten für einen eigenen Internetzugang zu Hause sind für die meisten Bewohner des relativ armen Afghanistan noch immer unerschwinglich (Datareportal 2021 und OpenNet Initiative 2007).

Einen großen Zuspruch haben Social-Media-Plattformen wie Facebook, WhatApp oder YouTube. Einige Afghanen lesen auch Onlinenachrichten. Doch gedruckte Nachrichten sind noch immer beliebter. Vor allem aber Radiosendungen werden viel gehört. Sie sind leicht zu verstehen – auch für die weniger gebildeten Hörer (Quarizada 2016).

Die Taliban und das Internet nach dem Machtverlust

Nicht nur afghanische Durchschnittsbürger haben sich dem Internet in den letzten Jahrzehnten angenähert. Die Taliban vollzogen einen Strategiewandel. Sie begannen, das Internet für eigene Zwecke zu nutzen.

Bereits vor rund zehn Jahren besaßen sie diverse Internetdomains. Taliban-Mitglieder nutzen E-Mails, um mit Journalisten zu kommunizieren. „Heute können Kriege nicht ohne Medien gewonnen werden. Medien zielen auf das Herz, statt auf den Körper und wenn das Herz geschlagen ist, ist der Kampf gewonnen“, wird Abdul Sattar Maiwandi, ein Web-Editor einer Taliban-Website 2011 zitiert (Gwakh 2011).

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Taliban bereits ein offizielles „Medienkomitee“ erschaffen und ein professionelles Produktions-Studio produzierte Videos für sie. Diese wurden dann über die Websites und Social Media-Kanäle wie Facebook, Twitter und YouTube verbreitet. Schon vor zehn Jahren unterhielten die Taliban diverse Twitter-Accounts (Gwakh 2011).

Im Jahr 2016 brachten sie sogar eine eigene News-App namens Alemarah in den Google Playstore. Sie enthielt Nachrichten auf Paschtu – eine in Afghanistan und Pakistan gesprochene Sprache. Die App war nur für wenige Stunden zum Download verfügbar. Dann wurde sie wegen Verletzung der Google-Richtlinien entfernt (Purtill 2016).

Heute nutzt die Taliban offen alle zur Verfügung stehenden Social-Media-Kanäle, um ihre Nachrichten und Erzählungen zu verbreiten. Die drei wichtigsten Akteure haben auf Twitter insgesamt fast 800.000 Follower. Da die Taliban in den USA nicht offiziell als terroristische Vereinigung gelten, können sie von in den USA ansässigen Unternehmen betriebene Medien ohne Einschränkungen nutzen. Die offizielle Taliban-Website Alemarah wird deshalb auch problemlos über Cloudflare gehostet – ein Unternehmen mit Sitz in San Francisco (Taneja 2021).

Die Social-Media-Kanäle der Taliban zielen vor allem auf junge Afghanen ab. Vor einigen Jahren waren die Taliban noch vor allem in Jihad-Foren und Blogs unterwegs. Diese wurden von sozialen Medien abgelöst. Facebook ist eine der zunehmend genutzten Plattformen. Im Jahr 2017 hatten bereits mehr als 2000 Facebook-Nutzer die Seite Islamic State of Afghanistan geliked – scheinbar die offizielle Facebook-Präsenz der Taliban. Auch einzelne Mitglieder der Taliban betreiben Facebook-Seiten. Sie haben insgesamt mehrere hundert Facebook-Freunde (Johnson 2017, 89).

Aktuell – im Jahr 2021 – ist eine erneute Diskussion darum entbrannt, ob der Facebook-Konzern aufgrund von US-Sanktionen nicht alle von den Taliban erstellten Inhalte auf den entsprechenden Plattformen löschen sollte. Bereits 2017 wurde dies durch Facebook getan. Aktuell sind insbesondere die Dienste WhatsApp und Instagram im Gespräch (Heise Online 2021).

Zielgruppen der Taliban und Offline-Kommunikation

Neben den Social Media-Aktivitäten betreiben die Taliban auch simple Webauftritte. Al-Emarat ist eine einfache Website mit religiösen, kulturellen, historischen und politischen Inhalten. Sie enthält detaillierte und tagesaktuelle Lageberichte zu den Aktivitäten der Taliban in Afghanistan. Die Inhalte werden in fünf verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellt: Paschtu, Dari, Urdu, Arabisch und Englisch (Johnson 2017, 85ff.).

Da wenige Afghanen Internetzugang haben, sind das Ziel dieser Propaganda-Tätigkeiten vor allem Ausländer. Die Paschtu- und Dari-Segmente der Al-Emarat-Website zielen zwar auch auf lokales Publikum, haben aber vor allem auch die Nachbar-Länder Pakistan, Iran und Tajikistan im Blick. Lokale Zielgruppe sind Journalisten, die gebildete und die städtische Schicht. In den genannten Nachbarländern Iran und Pakistan gibt es besseren Internetzugang, sodass die Taliban hier mit ihren Inhalten anti-westliche Propaganda und Nachrichten gegen die afghanische Regierung verbreiten konnten (ebd.).

Auch die Abschnitte der Website auf Urdu, Arabisch und Englisch zielen auf ein ausländisches Publikum. Urdu wird vor allem in Pakistan und süd-asiatischen Ländern gesprochen. Die Taliban erhalten so Aufmerksamkeit bei potenziellen Unterstützern. So akquirieren sie Gelder – unter anderem werden die Taliban durch den pakistanischen Staat und die pakistanischen Geheimdienste mitfinanziert. Für diese ist die Website ein Informationsmedium zum Kampferfolg. Gleiches Ziel gilt für die arabische Version der Al-Emarat-Website. Auch hierdurch sollen finanzkräftige Unterstützer in der muslimischen Community gefunden werden (ebd.).

Die englische Version von Al-Emarat dient als Kommunikationsmittel mit dem Westen. Meist drehen sich die Nachrichten hier um die Macht der Taliban und die Abwehr internationaler Kräfte in Afghanistan. Es geht um die Verbreitung von Angst und die Manipulation der westlichen Wahrnehmung im Hinblick auf den Afghanistan-Krieg (ebd.).

Die Afghanen selbst werden von den Taliban durch Pamphlete, Broschüren, Radio, Audio- und Video-CDs, Magazine und religiöse Sympathisanten erreicht (Gwakh 2011). Ein effektives Mittel sind die sogenannten „Night Letters“ oder auch shabnamah. Dies sind schriftliche Verlautbarungen, welche im Grunde über Nacht an Dörfer, Gruppen oder Individuen geliefert oder an die Wände lokaler Moscheen angebracht werden. Sie drohen meist mit Konsequenzen, falls die Betroffenen sich nicht an die in ihnen ausgesprochenen Regeln halten. Vor allem im ländlichen Afghanistan ist dieses Kommunikationsmittel noch immer effektiv, um Macht auszuüben (Taneja 2021).

Zerstörung der Strom- und IT-Infrastruktur durch die Taliban

Selbst wenn die Zahl der Internetnutzer in Afghanistan noch vergleichsweise gering ist, hat sich der Telekommunikationssektor in den letzten Jahren als einer der wichtigsten des Landes entwickelt. Der durchschnittliche jährliche Umsatz beträgt fast 140 Millionen US-Dollar, was mehr als 12 Prozent der gesamten Staatseinnahmen ausmacht. Der Sektor besteht aus Kooperationen zwischen Privatwirtschaft und Regierung (Kumar 2021).

In den letzten Monaten ist jedoch die kritische Infrastruktur dieses Bereichs zunehmend von den Taliban attackiert worden. Im Juli sprengte die Gruppe Glasfaserkabel und Systemausrüstung in Islam Qala – eine Grenzstadt zum Iran. Nach der Attacke waren die Einwohner der Stadt ohne Internetzugang (ebd.).

Weiterhin wurden im gesamten Land 28 Telekommunikation-Antennen zerstört und 23 teilweise beschädigt. Ein Vorgang, welcher die digitale und mobile Kommunikation in Afghanistan kritisch einschränkt (ebd.).

Auch die elektrische Infrastruktur wurde von den Taliban angegriffen. Millionen von Afghanen sind täglich Stromausfällen ausgesetzt und müssen teilweise mit nur wenigen Stunden Strom pro Tag zurechtkommen. Auch dies schadet dem IT-Sektor des Landes extrem. Einige Unternehmen haben in Stromgeneratoren und Backups investiert. Jedoch bekommen sie diese Ausgaben nicht unbedingt durch Einnahmen wieder herein. Gerade kleinere Geschäfte und Selbstständige leiden unter der Situation (ebd.).

Wie geht es unter den Taliban mit dem Internet in Afghanistan weiter?

Mit der erneuten Machtübernahme durch die Taliban stellt sich somit die Frage, wie ihre zukünftige Medien- und Internetstrategie aussieht. Wird es wieder ein komplettes Verbot des Internets in Afghanistan geben? Ist dies zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt möglich? Werden die Taliban weiter die Infrastruktur des IT-Sektors zerstören und unbrauchbar machen?

Bisher sieht es so aus, als ob die Taliban sich an das neue Medium Internet zu stark gewöhnt haben, als dass sie es komplett abschaffen werden. Denkbar sind aber strenge Zensurmaßnahmen, ähnlich wie im Nachbarland Iran und eine zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit. Jedoch wird auch dies aufgrund fehlender Ressourcen einige Zeit in Anspruch nehmen. Auch die Propaganda über Online- und Offline-Kanäle wird weiterhin zunehmen und die Taliban werden mit ihren reißerischen Inhalten ein Publikum in und um Afghanistan anzusprechen versuchen.

Viele westliche Medienberichterstatter stützen sich schon jetzt stark auf die in den Taliban-Kanälen präsentierten Informationen, während die afghanische Regierung weiterhin in sozialen Medien wenig bis kaum präsent ist. Was dies für eine ausgewogene Berichterstattung – gerade jetzt in Zeiten des Umbruchs heißt – ist fragwürdig.

Neben vielen anderen Errungenschaften in Afghanistan in den letzten Jahren, zählt das Wachstum des IT-Sektors zu den Vorzeigeprojekten. Es bleibt abzuwarten, ob Digitalisierung im Sinne der Taliban ist.


Quellen

Datareportal. „Digital 2021: Afghanistan.“ < https://datareportal.com/reports/digital-2021-afghanistan > 2021 (17.08.2021)

Gwakh, Bashir Ahmad. „The Taliban’s Internet Strategy.“ < https://www.heise.de/news/Taliban-in-Afghanistan-nutzen-WhatsApp-Facebook-muss-reagieren-6167471.html > 2021 (18.08.2021)

Heise Online. „Taliban verbieten Internet in Afghanistan.“ < https://www.heise.de/newsticker/meldung/Taliban-verbieten-Internet-in-Afghanistan-38733.html > 2001 (17.08.2021)

Johnson, Thomas H. Taliban Narratives – The Use and Power of Stories in the Afghanistan Conflict. Oxford u.a.: Oxford University Press, 2017.

Kumar, Ruchi. „Taliban targeting Afghanistan’s crucial power, IT infrastructure.“ < https://opennet.net/research/profiles/afghanistan > 2007 (17.08.2021)

Purtill, James. „Why the Taliban news app could be reshaping your internet use.“ < https://www.abc.net.au/triplej/programs/hack/why-the-taliban-news-app-could-be-reshaping-your-internet-use/7302068 > 2016 (17.08.2021)

Qarizada, Hamed Reza. „Das Internet in Afghanistan kam mit dem Smartphone.“ < https://futurezone.at/myfuzo/das-internet-in-afghanistan-kam-mit-dem-smartphone/221.998.852 > 2016 (17.08.2021)

Rötzer, Florian. „Das Internet kommt in Afghanistan an.“ < https://www.heise.de/tp/features/Das-Internet-kommt-in-Afghanistan-an-3425885.html > 2002 (17.08.2021)

Taneja, Kabir. „From ‚Night Letters‘ to the Internet: Propaganda, the Taliban and the Afghanistan Crisis.“ < https://gnet-research.org/2021/08/16/from-night-letters-to-the-internet-propaganda-the-taliban-and-the-afghanistan-crisis/ > 2021 (17.08.2021)

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