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Der NSA-Skandal im Jahr 2013 hat die politische Diskussion zu „Digitaler Souveränität“ in der Europäischen Union beflügelt (Pohlmann u.a. 2014, 2 und Misterek 2017, 20).
(Misterek 2017, 20)
Parallel zur politischen Diskussion hat sich auch die Forschung intensiver mit diesem Thema auseinandergesetzt. Unterschiedliche Autoren zeigen in ihren Analysen zu der Vorgehensweise der Europäischen Union drei Untersuchungsebenen auf: das Individuum beziehungsweise den Bürger, Unternehmen und Staat (Pohl 2016, 11). Grundsätzlich wird ein weiter Souveränitätsbegriff zugrundegelegt, welcher sich auch mit dem Schlüsselwort „Autonomie“ fassen lässt. Er wird insofern vom ursprünglichen, auf territoriale Bezüge angewandten Souveränitätsbegriff entkoppelt.
Empfehlungen hinsichtlich der staatlichen digitalen Souveränität richten sich tendenziell gegen eine europäische Abschottungsstrategie (beispielhaft Werden 2016, 48; Tesch 2016, 200 und Veddern 2016, 335). Favorisiert wird eher ein wirksamer Datenschutz für die Bürger, die Förderung von gegenüber der US-Wirtschaft unabhängiger Tech-Unternehmen und eine möglichst transparente, digitale Infrastruktur (Tesch 2016, 195).
Laut Santaniello lässt sich das Vorgehen der Europäischen Union in den Anfangsjahren des Internets als „digital neoliberalism“ bezeichnen. Vor allem der Privatsektor sollte Entscheidungen treffen. Die Politik beschränkte sich weitgehend auf Initiativen zur Deregulierung des Marktes, den Schutz von Urheberrechten und die Förderung von Privatinvestitionen. Das Grundprinzip war ein wirtschaftliches und es erfolgte eine Ablehnung von staatlicher Steuerung. Es wurden Entscheidungsfindungen innerhalb privatgeleiteter Politikschauplätze wie der Internet Coporation for Assigned Names and Numbers bevorzugt.
Angelehnt an das US-Vorbild ist dieses Modell seit den 1990er Jahren innerhalb der Europäischen Union vorherrschend gewesen – was sich vor allem in der „Digitalen Agenda for Europe“ (2010) und der „Digital Single Market Strategy“ (2015) zeigt (Santaniello 2021, 24f.). Seit einigen Jahren – Santaniello bezieht sich hier auf eine Rede des französischen Präsidenten Emanuel Macrons vor dem Internet Governance Forum 2018 – scheint es allerdings tendenziell einen Wandel hin zu einer Strategie des „digital sovereigntism“ beziehungsweise „digital constitutionalism“ zu geben.
Beiden Ansatzpunkten ist gemein, dass sie mehr Regulierung durch den Staat fordern und ein hohes Durchsetzungs-Level propagieren. Das heißt, diese Strategien haben verbindliche Rechtsnormen für die Nationalstaaten und internationale Vereinbarungen als Ziel (ebd., 25 ff.).
Insgesamt ist die Perspektive der Europäischen Union auf das Internet und die damit verbundene Souveränität eine demokratisch-liberale und im Vordergrund stehen Ideen von (Meinungs-)Freiheit, Grundrechte und Kooperation. Im Zentrum der Diskussion steht eine digitale Transformation auf Basis europäischer Werte wie Nachhaltigkeit, Sicherheit, Vertrauen und Fairness (Jelinek 2021, 1 und 5) . Vor allem geht es dabei nicht darum, nationale modern-analoge Souveränität zu ersetzen, sondern sie durch eine supranationale, zeitgenössisch-digitale zu ergänzen.
Dabei bewegt die Akteure insbesondere die Frage, ob Volkssouveränität auf ein Modell der supranationalen Souveränität übertragen werden kann und wie (Floridi 2020, 375). Im Mittelpunkt der europäischen Debatte stehen mehr das autonome Individuum und die Selbstbestimmung des Einzelnen als der Staat –
(Pohle/Thiel 2020, 11f.)
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Quellen
Floridi, Luciano. „The Fight for Digital Sovereignty: What It Is, and Why It Matters, Especially for the EU.“ In: Philosophy & Technology 33, 2020, 369-378.
Jelinek, Thorsten. „Mapping Europe’s Digital Sovereignty Strategy: The EU-China-US Triangle.“ < http://www.taiheinstitute.org/Content/2021/03-29/1454031342.html > 2021. (29.05.2021).
Misterek, Fock. „Digitale Souveränität – Technikutopien und Gestaltungsansprüche demokratischer Politik.“ < https://pure.mpg.de/rest/items/item_2452828/component/file_2452826/content > 2017. (30.04. 2021).
Pohl, Hartmut. „Der bürgerliche Traum von digitaler Souveränität – Technische Bemerkungen zur völligen Unsicherheit digitaler Kommunikation.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 9 – 22.
Pohle, Julia; Thiel, Thorsten. „Digital sovereignty.“ < https://doi.org/10.14763/2020.4.1532 > 2020. (10.06.2021).
Pohlmann, Norbert; Sparenberg, Michael; Siromaschenko, Illya; Kilden, Kilian. „Secure communication and digital sovereignty in Europe.“ In: Reimer, Helmut; Pohlmann, Norbert; Schneider, Wolfgang (Hrsg.). ISSE 2014 Securing Electronic Business Processes: Highlights of the Information Security Solutions Europe 2014 Conference. Wiesbaden: Springer Vieweg, 2014, 155 – 169.
Santaniello, Mauro. „From governance denial to state regulation – A controvert-based typology of internet governance models.“ In: Haggart, Blayne; Tusikov, Natasha; Scholte, Jan Aart (Hrsg.). Power and Authority in Internet Governance – Return of the State? London und New York: Routledge, 2021, 15 – 36.
Tesch, Henrik. „Jagd auf eine Illusion.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016,195 – 204.
Veddern, Michael. „Digitale Souveränität und europäische Öffentlichkeit … oder warum es eines neuen Zeitalters der europäischen Aufklärung bedarf.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 333 – 349.
Werden, Stefan. „Digitale Souveränität, ein Orientierungsversuch.“ In: Friedrichsen, Mike; Bisa, Peter-J. (Hrsg.). Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 35 – 51.