Konfuzianismus, Technologie und das Internet – Ein Blick nach China

>> Read this blogpost in English.

Digitale Welten sind immer auch geprägt von den sie beeinflussenden sozialen, politischen und kulturellen Hintergründen einer Gesellschaft, die sich in ihnen bewegt. Überlegungen und Pläne, wie technologische Anwendungen kreiert und geschaffen werden, können somit nicht aus einem universellen Blickwinkel betrachtet werden. Sie sind nicht kulturübergreifend gleich.(Kirk/Lee/Micaleff 2020)

Philosophen haben sich schon lange intensiv mit Technologie auseinandergesetzt und tun dies aktuell noch immer. Dabei ist jedoch der Blick sehr stark westlich geprägt und wird durch die angloamerikanische und europäische Sichtweise dominiert. Verschiedene Autoren kommentieren deshalb, dass eine multikulturelle Sichtweise auf Technologie notwendig ist. Insbesondere weil Länder wie China Schritt für Schritt ihre wirtschaftliche und geopolitische Macht ausbauen und es ein besseres Verständnis der jeweiligen Kulturen braucht.(u.a. Wong/Wang 2021, 3)

Doch was sind die kulturellen Grundlagen, wenn man den Blick gen Osten wirft? In China wird die Debatte rund um Technologie und das Leben mit dem Digitalen vor allem durch eine konfuzianische Betrachtungsweise geprägt. Gleichzeitig spielen die politischen Ausrichtungen und autoritären Ideale der Kommunistischen Partei eine prägende Rolle.(Kirk/Lee/Micaleff 2020)

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird die intellektuelle Debatte in China vom sogenannten „Neuen Konfuzianismus“ bestimmt. Diese Denkrichtung plädiert für eine Anpassung konfuzianistischen Denkens an moderne Wissenschaft und Technologie und den Beitrag, den konfuzianistische Werte für eine menschlichere Entwicklung in diesen Bereichen leisten können.(Wong 2020)

In China nutzt die Kommunistische Partei die Sprache des Konfuzianismus um ihre autoritäre Kontrolle über die konfuzianischen Konzepte Hierarchie, Stabilität und Einheit im digitalen Bereich auszubauen und zu halten. Auch digitale Überwachung wird so gerechtfertigt.(Kirk/Lee/Micaleff 2020)

Unter Xi hat die Verbreitung von konfuzianischen Werten in der chinesischen Regierung noch zugenommen. Xi hat einen „Kult der Persönlichkeit“ wiederbelebt, welcher an Mao erinnert. Regierung unter ihm legitimiert sich durch nationalistische Rhetorik und revisionistische Diskurse, welche die Loyalität in der Bevölkerung sichern und an die historische Großartigkeit Chinas erinnern sollen. Dies geschieht durch öffentliche Events und das Zelebrieren des Konfuzianismus durch die Regierung. Dabei sind konfuzianische Grundsätze immer in die politischen Ideologien des Marxismus-Leninismus eingebettet.(ebd.)

Die Wiederbelebung des Konfuzianismus unter Xi ist Teil einer größeren Strategie, traditionelle chinesische Kultur wieder salonfähig zu machen. Dabei geht es um die Erneuerung alter Kultur und Werte, um sie für moderne, aktuelle Politik zu nutzen. Ziel ist die Verwirklichung des „Chinesischen Traums“ und die Rückbesinnung auf China als ein Ort nationaler Größe mit territorialem und ökonomischem Einfluss. Xi selbst geht es darum, seine Führerschaft zu konsolidieren und eine Bevölkerung zu vertreten, die ihn selbst als ihren Lehrer und Anführer sieht.(Clayton 2020)

Neben der Rückbesinnung auf den Konfuzianismus als kulturelle Basis des Landes hat sich in China in den letzten Jahren auch eine große Technikbegeisterung breit gemacht. Viele Entscheidungen der chinesischen Regierung in Bezug auf Technologie werden durch den Konfuzianismus beeinflusst, weshalb sich ein genauerer Blick auf diesen lohnt.

So wurden zum Beispiel durch die chinesische Regierung 2019 die „Governance Principles for a New Generation of Artificial Intelligence: Develop Responsible Artifical Intelligence“ erlassen. Deren erstes Prinzip ist Harmonie und Freundlichkeit. Entwicklung künstlicher Intelligenz soll mit menschlichen Werten einhergehen, ethisch und moralisch sein und Mensch-Maschine-Harmonie unterstützen. Sie sollte dem Fortkommen menschlicher Entwicklung und Zivilisation dienen.(ebd., 3f.) Aus diesen Formulierungen wird bereits deutlich, wie der Konfuzianismus Entscheidungen und Ansätze der chinesischen Regierung prägt.

Harmonie in der konfuzianischen Ethik

Konfuzianisten glauben, dass die ideale Beziehung zwischen Menschen und Himmel nicht von Konfrontationen geprägt, sondern harmonisch ist. Weder sind Menschen gegen den Himmel, noch andersherum. Gleiches gilt für die Beziehungen zwischen den Menschen selbst. Im Konfuzianismus wird großer Wert auf interpersonelle Harmonie gelegt.(Wong 2012, 72)

Dabei gelten folgende Ansätze: Harmonie heißt nicht komplette Zustimmung, Harmonie heißt nicht prinzipienloser Kompromiss, Harmonie ist das Ausbalancieren einer Sache mit einer anderen und Harmonie ist gegenseitige Komplementieren von Akzeptanz und Ablehnung. Daraus ergibt sich, dass Gleichheit und Harmonie im Konfuzianismus zu unterscheiden sind. Im Kern steht hierbei die Idee einer kreativen Dynamik, welche im konfuzianischen Denken essentiell für menschliches Wachstum ist. Komplette Zustimmung würde nur gegenseitige Verstärkung bedeuten, und nicht kreativen Austausch. Sie würde den Status Quo erhalten, aber nicht für Wachstum sorgen.(ebd., 73)

Auch prinzipienloser Kompromiss gilt nicht als harmonisch, da ein Kompromiss nicht förderlich für gegenseitige Bereicherung ist. Im Gegenteil: Ein Kompromiss gilt als entgegengesetzt zu Harmonie. Konfuzianisten glauben, dass jeder Mensch eine bestimmte Rolle und Funktion einnimmt. Kompromiss würde in diesem Zusammenhang eine nicht gewünschte Form der Unterdrückung bedeuten. Harmonische Beziehungen sind also nicht von Kompromiss, sondern von Vernunft geprägt.(ebd.) Eine sensible Person sollte nach Konfuzius dazu in der Lage sein, verschiedene Meinungen zu respektieren und mit verschiedenen Menschen harmonisch zusammenzuarbeiten.(Xiaohong/Qingyuan 2013, 61)

Um Harmonie zu erreichen, sind verschiedene Komponenten miteinander in Einklang zu bringen. Diese Komponenten sollten ihre eigene Rolle und Funktion erfüllen, mit anderen Elementen in angemessener Weise in Eintracht stehen und diese nicht dominieren. Harmonie verlangt es, die Dinge auszubalancieren, so dass sie sich komplementieren und gegenseitig unterstützen.(Wong 2012, 73)

Was richtig und was falsch ist, spielt im Konfuzianismus eine untergeordnete Rolle. Es kommt vielmehr auf die Kontextualisierung in einem bestimmten Moment an. Konfuzianisten legen großen Wert darauf, die Komplexität des Sozialen in konkreten Situationen zu erfassen und mit ihrem Handeln entsprechend auszubalancieren. Jede Situation ist anders und neu und erfordert deshalb eine Anpassung des Verhaltens an diese. Harmonie ist deshalb eher ein Prozess, also Harmonisierung, als ein bestimmter Zustand.(ebd., 73f.)

Im Alltag werden in China zwei verschiedene Formen von zwischenmenschlicher Interaktion gelebt: Aufrichtige und oberflächliche Harmonie. Erstere bezieht sich auf die echte und unverfälschte Harmonie, ist aber sehr schwer zu erreichen. Zweitere bezieht sich auf eine gelebte Form der Harmonie, die an der Oberfläche aufrechterhalten wird, obwohl unterschwellig Konflikte schwelen. Diese dient dazu, Konfrontationen auf ein geringes Maß zu reduzieren. Interpersonale Harmonie wird häufig in dieser Form gelebt, was vor allem für Ausländer durchaus verwirrend sein kann.(Xiaohong/Qingyuan 2013, 62)

In Gruppen wird Harmonie ebenfalls hochgehalten. Dabei werden Gruppen-Leistungen und die Beiträge anderer zur Gruppe vom Einzelnen betont und nicht individuelle Bedürfnisse und Gedanken. In China sozialisierte Menschen sind sehr sensibel, was ihre jeweilige Gruppenangehörigkeit betrifft. Dabei geht es auch darum, ob man in der jeweiligen Gruppenhierarchie einzelnen anderen Mitgliedern über- oder untergeordnet ist. Gehört eine Person zu einer untergeordneten Position, so werden die eigenen Ideen weniger vehement vertreten. Meinungen sollten dann eher zurückhaltend vorgetragen werden.(ebd., 63)

Auch der Ausdruck sehr starker Emotionen ist nicht mit dem Ideal der Harmonie vereinbar. Deshalb drücken Chinesen Gefühle nur sehr moderat aus. Offene und aggressive Streits sind in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen oder erlaubt, da sie als eine Beleidigung des Kollektivs empfunden werden. Kritik wird, wenn überhaupt, nur indirekt kommuniziert. Oder aber in einem ruhigen Gespräch zu zweit.(ebd.)

Abseits dieses konkreten Beispiels, interessiert die Frage danach, wo die Unterschiede des chinesischen Blickwinkels auf Technologie und Internet im Vergleich zu westlichen Gesellschaften liegen. Wie wirkt sich die konfuzianische Philosophie, die China so stark prägt, auf die Annahme oder Ablehnung bestimmter Technologien aus? Welche Besonderheiten im Umgang, zum Beispiel mit dem Internet, künstlicher Intelligenz und sozialen Medien, ergeben sich daraus? Welche Vorstellungen prägen die chinesische Gesellschaft und leiten sie an?

Technologie und Konfuzianismus

Aus konfuzianischer Sicht ist Technologie niemals wertneutral. Gute Technologie sollte immer dazu beitragen, die in einer Gemeinschaft respektierten und gepflegten Werte zu erhalten und zu fördern. Dazu zählt zum Beispiel der Wert der Harmonie. Deshalb bewertet eine konfuzianische Perspektive auf Technologie immer auch, inwiefern diese zum Prozess der Harmonisierung beiträgt. Technologien, welche die entsprechenden moralischen Verpflichtungen und Rollen unterwandern, sollten dementsprechend beschränkt werden.(Zhu 2019, Zhu 2020 und Li 2013) Einen solchen Blickwinkel gibt es in der westlichen Philosophie nicht. Harmonie als Konzept ist etwas typisch konfuzianisches. Auch Rollenerwartungen werden im Westen anscheinend nicht im Zusammenhang mit Technologie untersucht. Mehr erfolgt eine Konzentration auf das Individuum und die gesamtgesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen Auswirkungen, die Technik haben kann.

Da dem Staat in China eine paternalistische Stellung zukommt, werden Interventionen durch Regierende im Bereich Technik und Technologie durch die Mehrheit der Bevölkerung willkommen geheißen und sogar gefordert. Dabei wird vor allem ein Handeln im Sinne des Kollektivs und – erneut – der gesamtgesellschaftlichen Harmonie begrüßt. Individuelle Belange und persönliche Freiheit spielen eine eher untergeordnete Rolle. Alles sollte von den Regierenden im Sinne der Gemeinschaft entschieden werden.(Hung 2021, 58f.)

Aus westlicher Sicht ist dies nicht mit dem hohen Stellenwert der individuellen Freiheit vereinbar. Staatlicher Paternalismus wird generell kritisch gesehen und die Befürchtung, dieser führe in autoritäre Regime, ist groß. Regulierung von Technik ist auch im Westen ein Thema – doch geht es hierbei nicht unbedingt um eine unhinterfragte Indoktrinierung durch Herrschende.

Neben dem Wert der Harmonie ist die Realisierung des Dao im Konfuzianismus sehr bedeutend. Deshalb wird eine Technologie-Ethik aus dieser Perspektive immer fragen, was die moralisch richtigen Dinge sind und was die guten Dinge sind. Dabei wird sich Dao in Verbindung mit Technologie immer darum drehen, wie menschliches Wachstum und menschliche Entwicklung gewährleistet werden können.(Wong 2012, 80f.)

Ein Prinzip wie das Dao ist im Westen unbekannt. Hier werden Himmel und Erde als getrennte Instanzen und nicht als Einheit wahrgenommen. Dennoch wird auch in der westlichen Philosophie diskutiert, wie Technik zur menschlichen Entwicklung beitragen kann. Dabei wird Technologie jedoch materieller betrachtet. Während im Sinne des Dao der Mensch und seine Umgebung eine Einheit bilden und Technologie im Konfuzianismus lange als etwas unnatürliches und deshalb nicht erstrebenswertes gesehen wurde, gilt die Technik im Westen als wichtiges Mittel um den Menschen zu unterstützen und zu komplementieren.

Dao

„Dao“ wird übersetzt mit „der richtige Weg“ und definiert die kosmische moralische Ordnung. Es wird als harmonische Interaktion zwischen den drei Komponenten des Kosmos gesehen: Konfuzianisten sehen den Kosmos als eine triadische Einheit zwischen Himmel, Erde und Menschheit. Wenn Dao richtig realisiert und gepflegt wird, dann ist die gesamte Welt im Einklang.(Li 2013)

Häufig wird Dao mit Himmel assoziiert, das heißt, der Himmel hat ein eigenes Dao, welches als Blaupause für alle anderen Daos gilt. In konfuzianischer Denkweise meint Himmel das Universum in Verbindung mit Erde und der Natur, beziehungsweise materiellen Welt. Himmel hat aus dieser Sicht ein eigenes Dao – ein Prinzip, welches das Universum und die materielle Welt organisiert und regiert. Der Himmel gilt als die ultimative Quelle von Normativität.(Wong 2012, 69)

Dabei sanktioniert und korrigiert der Himmel nicht nur Verfehlungen, sondern ist auch positiv und proaktiv: Er hegt und pflegt die Dinge. Menschen wird durch den Himmel das Potenzial verliehen, sich mit ihm zu verbinden.(ebd., 70)

Alles hat ein eigenes Dao, welches wiederum eine Instanz des himmlischen Dao ist. Diese Daos legen fest, wie Dinge zu sein haben oder getan werden müssen. Dabei diktiert das himmlische Dao nicht unbedingt menschliche und soziale Belange. Im Kern sind Menschen, die dem Dao folgen, im Zentrum des Universums. Dabei bilden das menschliche und das himmlische Dao eine Einheit und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden.(ebd., 70f.)

Das Internet und konfuzianische Ethik

Einer der ersten und herausragenden Artikel, welcher sich mit Konfuzianismus und dem Internet beschäftigt, wurde von Mary Bockover 2003 veröffentlicht. Laut ihr wurde das Internet durch westliche Werte wie freie Meinungsäußerung, Gleichheit und freiem Handel geleitet. Diese stünden im Konflikt mit konfuzianischen Werten, da die Idee von persönlicher und politischer Autonomie nicht zu diesen passe. Individualismus stehe im Kontrast zu dem vom Konfuzianismus propagierten Werten. Insbesondere die Idee des relationalen Selbst, also dass der Mensch immer nur in Beziehungen zu anderen zu einer Person werden kann, steht dem entgegen. Deshalb seien konfuzianische Werte nicht kompatibel mit dem Internet.(Wong 2013, 284ff.)

Andere Autoren argumentieren, dass Bockovers Blick auf das Internet noch nicht weit genug gefasst sei, da ihre Ausführungen aus einer Zeit vor der Entstehung des Web 2.0 stammen. Dieses sei kollaborativer und partizipativer Natur, was Gemeinschaftsbildung und Kooperation fördere. Internetnutzer seien deshalb nicht mehr nur isolierte Personen, sondern soziale und relationale Dimensionen seien von Bedeutung. Damit verändere sich auch der philosophische Blick auf das menschliche Selbst – weg vom Individualismus hin zu einer eher relationalen Form.(Wong 2013, 286f.)

Dennoch sei das Web 2.0 für konfuzianische Nutzer problematisch. Einerseits sei das Publikum „unsichtbar“ und nicht immer zu fassen, für denjenigen, der sich innerhalb dieser Sphäre bewegt. Weiterhin würden räumliche, soziale und zeitliche Grenzen fehlen, was es schwierig macht, unterscheidbare soziale Kontexte zu erkennen. Dadurch seien öffentliche und private Bereiche vermischt und wären schwierig auseinanderzuhalten.(Wong 2013, 288)

Menschsein in der konfuzianischen Ethik

Das konfuzianische Verständnis von „Menschsein“ ist gekennzeichnet durch seinen relationalen und entwicklungsorientierten Charakter. Eine Person agiert außerdem immer wertegebunden.

Relational heißt, dass der Mensch in ein Netz aus familiären und sozialen Beziehungen geboren wird. Nur innerhalb dieses können Menschen erwachsen werden und sich entwickeln. Dies geschieht durch die Erfüllung der Pflichten, welche mit ihren Rollen und Beziehungen verbunden sind. Rollen und Beziehungen spielen also in der konfuzianischen Philosophie eine entscheidende Rolle.(Wong 2020) Ob jemand wahrhaftig und wirklich eine Person ist, hängt von der jeweiligen Ausführung der vorgegebenen Rollen ab.(Wong 2013, 289)

Konfuzianisten glauben, dass Menschen in sich soziale und abhängige Wesen sind. Zuerst sind sie rein biologische Gestalten. Erst durch ihre Beziehungen werden sie zu Personen. Dabei sind es vor allem die familiären Beziehungen, welche eine ausschlaggebende Rolle spielen. Sie bilden den ersten sozialen Kontext innerhalb welchem Menschen lernen, miteinander in Kontakt zu treten und mit anderen angemessen zu interagieren.(Wong 2012, 74f)

Entwicklungsorientiert heißt, dass die Charaktereigenschaften eines Menschen nicht statisch oder von Geburt an gegeben sind. Menschen müssen erst durch Lernen und Praxis im Alltag zu Personen werden. Aus Sicht des Konfuzianismus wird diese Entwicklung als immer fortschreitender Prozess in jedem Aspekt des Lebens kultiviert.(Wong 2020) Auch wenn jedes menschliche Wesen mit dem Potenzial ausgestattet ist, eine Person zu werden, braucht es die Kultivierung dieses Potenzials, damit dies auch geschieht.(Wong 2012, 75)

Konfuzianisten glauben weiterhin, dass das Personwerden mit der Einhaltung und dem Ausleben bestimmter Werte verbunden ist. Auch diese wiederum müssen im entsprechenden Netz von Beziehungen hochgehalten werden.(ebd., 76)

Zusammenfassend heißt das, dass Menschsein sich auf einem Kontinuum zwischen potenziell und realisiert bewegt. Es gibt im Konfuzianismus eine Unterscheidung zwischen einer Person im biologischen Sinne und derjenigen, die mit der Gesellschaft interagiert. Gibt ein Mensch den rein biologischen Bedürfnissen nach, so ist er kaum vom Tier zu unterscheiden. Auf der anderen Seite können Menschen sich von ihren animalischen Tendenzen befreien durch Kultivierung und Entwicklung ihrer selbst durch Lernen und Perfektion und das Erreichen von Selbstfertigkeit.(Gan 2020, 17)

Social Media und konfuzianische Ethik

Social Media-Anwendungen sind nach konfuzianischer Philosophie zumindest problematisch. Konventionelle Normen der Kommunikation werden durch das Design der Plattformen potenziell durchbrochen. Ausdruck und Verständnis von Bedeutungen innerhalb einer Gemeinschaft können als instabil und ineffektiv wahrgenommen werden. Pak-Hang Wong, der sich mit dem Konfuzianismus und Technologie auseinandergesetzt hat, nennt als negatives Beispiel Live-Tweets auf Twitter, welche eine private Konversation wiedergeben. Dies wäre nach konfuzianischen Regeln nicht angemessen, da eine solche Mitteilung nur im engsten Kreis der Familie, nicht aber in der Öffentlichkeit akzeptabel ist. Weiterhin nennt Wong als negativen Aspekt aus konfuzianischer Sicht, dass Social Media-Plattformen die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und privatem Raum verschwimmen lassen. Das mache es für die Menschen schwer, den sozialen Regeln der angemessenen Kommunikation zu folgen.(Wong 2020)

Grundsätzlich sei es aus konfuzianischer Sicht problematisch, so Pak-Hang Wong, dass die Leser für den einzelnen Nutzer während er oder sie etwas sagt oder tut nicht anwesend oder sichtbar sei. Somit würden Menschen mit anderen interagieren, welche sie nicht mit Sicherheit kennen. Das mache es schwierig, sich nach den korrekten Rollenerwartungen zu verhalten – gerade auch, weil unterschiedliche Menschen wie Familienmitglieder, Kollegen oder Freunde zur Leserschaft gehören können. Da aber die Erfüllung der jeweiligen sozialen Rollen im Konfuzianismus so wichtig für die Ausbildung einer Persönlichkeit ist, müssen soziale Medien kritisch gesehen werden.(Wong 2013, 190f.)

Auch das Verhalten nach bestimmten konfuzianischen Ritualen ist aufgrund des verborgenen Publikums in sozialen Medien schwierig bis unmöglich. Hinzu kommt die Vermischung sozialer Kontexte. Konfuzianisches Verhalten ist immer an einen bestimmten Rahmen gebunden, zum Beispiel familiäres oder berufliches Umfeld. In sozialen Medien verschwimmen die Grenzen dieser Kontexte und das Leben nach bestimmten Ritualen ist nicht mehr machbar.(Wong 2013, 191)

Soziale Medien haben deshalb in China zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Mentalität geführt. Da sie die Grenzen zwischen verschiedenen Gruppen aufheben, gibt es kein spezielles Privileg mehr für Rangordnungen oder Hierarchien. Bürger können selbstbestimmt Informationen abseits des parteinahen Apparates sammeln und sich mit höhergestellten gesellschaftlichen Gruppen offener kritisch auseinandersetzen. Das Ziel der sozialen Harmonie ist damit aus konfuzianischer Sicht stark gefährdet.(Cypris 2017)

Auch die Sorge darum, das Gesicht zu wahren – das eigene und das des Gegenübers – hat durch soziale Medien abgenommen. Dadurch dass das Gegenüber in weiter Distanz ist, ist die Hemmschwelle jemanden vor den Kopf zu stoßen weitaus geringer und Online-Nutzer sind durchaus auch einmal respektlos anderen gegenüber. Die neue Form der Kommunikation ist also weniger indirekt und offener. Der Einfluss und die Konsequenzen von Worten werden weniger stark bedacht. Die Gefühle und Reputation anderer spielen eine weniger gewichtige Rolle.(ebd.)

Soziale Medien bergen außerdem die Gefahr, dass Nutzer ihr eigenes Gesicht nicht wahren. So kann es dazu kommen, dass Inhalte mit den falschen Kreisen geteilt werden. Die Konsequenzen können vom Verlust von Freundschaften bis hin zum Arbeitsplatz reichen.(ebd.)

Rollen in der konfuzianischen Ethik

Nach konfuzianischer Ethik werden die jeweiligen moralischen Standpunkte, die Menschen einnehmen, von den spezifischen Rollen in einer Situation bestimmt. Diese Rollen können sich unterscheiden und werden durch die Beziehungen mit anderen geprägt. Der Umgangston mit der Familie ist anders, als der mit einer fremden Person. Unterschiedliche Beziehungen und Rollen bestimmen also, wie miteinander interagiert wird.(Zhu 2020)

Bereits mit der Geburt befindet sich ein Mensch in einem Netz aus sozialen Beziehungen. Diese haben normative Auswirkungen und sie schreiben die jeweiligen spezifischen moralischen Verantwortlichkeiten innerhalb einer Gemeinschaft vor. Das ultimative konfuzianische Ziel ist es, eine gute Person zu werden und dies hängt davon ab, wie gut soziale Rollen gelebt und praktiziert werden.(Zhu 2019)

Durch die eng vorgeschriebene Natur der jeweiligen Rollen werden entsprechende Gefühle und Erwartungen an die Beziehungen wach. Dadurch dass der Einzelne sich entsprechend seiner Rolle verhält, wird Tugendhaftigkeit kultiviert. Das ultimative Ziel ist es, diese Tugendhaftigkeit durch die Pflege von Beziehungen mit anderen zu erhöhen.(Zhu 2020)

Moralische Verpflichtungen sind denen gegenüber am höchsten, zu denen sehr enge Beziehungen gepflegt werden. Familiäre Rollen und Beziehungen nehmen im Konfuzianismus eine herausragende Position ein. Sie sind wichtiger als nicht-familiäre Rollen. Allerdings heißt das nicht, dass Fürsorge und Nächstenliebe sich nicht auch auf Menschen außerhalb des engeren Familienkreises beziehen können. Es ist eher so, dass das moralische Handeln innerhalb der gegebenen Familienrollen dann auch in das Außen weitergegeben wird – wie zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft allgemein.(ebd. und Wong 2013, 289)

Zwischenmenschliche Beziehungen legen einerseits also gesellschaftliche Rollen fest. Andererseits sind sie aber auch durch politische, soziale und professionelle Identitäten geprägt. Jede Rolle enthält verschiedene vordefinierte soziale Positionen und geht mit bestimmten Verantwortlichkeiten einher. So hat ein Mann beispielsweise andere Autorität und Aufgaben in seiner Rolle als Vater als in seiner Rolle als Ehemann.(Gan 2020, 27)

Rituale in der konfuzianischen Ethik

Konfuzianische Rituale werden auch „Li“ genannt. Riten oder Etikette sind ein normativer Standard in der konfuzianischen Philosophie für Entscheidungen und Verhalten. Sie bestimmen, wie Menschen miteinander agieren. Li bezieht sich einerseits auf zeremonielle und formale Rituale, aber auch Verhaltensmuster für den Alltag. Dies können zum Beispiel der korrekte Empfang von Gästen oder aber die richtige Art sich zu kleiden und zu gebären sein. Immer geht es dabei um die Rolle eines Menschen und in welchen Beziehungen er sich gerade in einem aktuellen sozialen Kontext befindet.(Wong 2020)

Rituale haben in diesem Sinne eine kommunikative Funktion. Persönliche und soziale Interaktionen basieren auf gemeinsamen Werten und Regeln. Sie stellen also ein öffentliches, geteiltes und verständliches Medium dar, welches hilft, die Verhaltensweisen und Antworten anderer Menschen zu interpretieren.(ebd.)

Li hilft auch dabei, gegenseitige Fürsorge aufrechtzuerhalten. Konfuzianische Riten werden von Generation zu Generation weitergegeben und als Tradition gepflegt. Menschen, die diese Rituale pflegen und beherrschen, sind Teil einer Gemeinschaft. Mitglieder dieser Gemeinschaft erkennen die Bedürfnisse anderer und können in angemessener Weise für sie sorgen.(ebd.)

Zusätzlich zu dieser Funktion haben Riten die Aufgabe, persönliches Verlangen zu zügeln und ethisches Verhalten zu fördern. Angemessene emotionale Antworten und Verhaltensweisen für verschiedene Kontexte werden so vorgeschrieben.(ebd.)

Schließlich hat Li auch eine ästhetische Seite. Wer nach konfuzianischen Ritualen handelt und spricht, verhält sich anmutig, gut reguliert und schön. Alle Antworten haben dann eine gewünschte und angenehme Form. Konflikte werden so reduziert und soziale Kooperation gesteigert.(ebd.)

Die Bedeutung von Li ist komplex. Das Erlernen von Ritualen ist wichtig für eine Person, um moralische Werte zu entwickeln. Eine Gesellschaft ohne Li wird als chaotisch und unzivilisiert wahrgenommen. Eine Person, welche sich nicht nach den konfuzianischen Regeln verhält, wird als zurückgeblieben und kulturell rückwärtsgerichtet empfunden. Li wird dabei nicht als etwas absolutes gesehen. Vielmehr soll es der Komplexität und Dynamik des sozialen Lebens gerecht werden und Konfuzianisten haben die Aufgabe, sich in ihrem Verhalten an die jeweils komplexe Einzelsituation anzupassen.(Li 2013)

Gesicht wahren in China

Im konfuzianistisch geprägten China hat Gesichtwahren eine stark übergeordnete Funktion. Das Gesicht ist der positive soziale Wert, welchen eine Person innerhalb eines persönlichen Kontaktes einnimmt. Jede Person ist einer bestimmten Rollenerwartung zugeordnet und diese geht mit harmonischen Beziehungen einher, welche wiederum dazu beitragen, dass alle Parteien ihr Gesicht wahren.(Xiaohong/Qingyuan 2013, 64)

Das Gesicht zu wahren, steht in enger Beziehung mit der Würde und dem Prestige einer Person. Dafür zu sorgen, dass man das eigene Gesicht wahrt und dass andere wiederum ihr Gesicht wahren können, zeugt von Respekt untereinander und hebt das Selbstbewusstsein der beteiligten Personen. Jemanden nicht mit diesem Respekt zu behandeln gilt als große Verfehlung. Wird aus irgendeinem Grund dafür gesorgt, dass jemand sein Gesicht verliert, so führt das zum Verlust von Respekt durch diese Person und durch alle anderen Personen, die Zeuge dieses Vorgangs waren.(ebd.)

In China wird durch verschiedene Handlungen dafür gesorgt, dass andere Menschen gut dastehen. So werden unbekannte Personen in der Öffentlichkeit mit Komplimenten überzogen, zum Beispiel für ihren Rang, Schönheit, Weisheit oder Eleganz. Weiterhin wird direkte Kritik vermieden und wenn dann nur taktvoll und in zweideutiger Weise gegeben. Die Vorschläge anderer werden immer mit Respekt behandelt, auch wenn es keine Übereinstimmung mit der eigenen Haltung gibt.(ebd.)

Aufgrund ihres großen Bewusstseins für Rollen und Hierarchien sind die Chinesen selbst sehr zurückhaltend, komplimentieren jedoch übergeordnete Personen. Diese Hervorhebung gilt als notwendig und sehr höflich.(ebd.)

Roboter und konfuzianische Ethik

Nach konfuzianischer Auffassung sind die Interaktionen zwischen Pflege-Robotern und Patienten ethisch akzeptabel, wenn die Gesten, Bewegungen und Ausdrücke des Roboters den Ritualen der Gemeinschaft entsprechen. Dies liegt darin begründet, dass für die Gepflegten der expressive Ausdruck der pflegenden Instanz von Bedeutung ist, nicht deren mentaler Zustand. Im Gegensatz zu menschlichen Pflegekräften hätten Roboter sogar den Vorteil, dass sie in ihren Handlungen wiederkehrend und erwartbar angemessene Reaktionen zeigen. Sie stehen so für eine aufmerksame, kompetente und zugängliche Pflege. Voraussetzung ist allerdings, dass der Ausdruck der Roboter den existierenden Interaktions-Stilen, sozialen Konventionen und Umgangsformen in der Gemeinschaft entspricht. Technologie wird so aus konfuzianischer Sicht als eine Fortsetzung des sozialen Interaktionsraumes verstanden.(Wong 2020)

Kürzlich wurden deshalb sogar ethische Richtlinien für sozial integrierte Roboter entworfen. Roboter, deren Entwicklung durch die konfuzianische Ethik inspiriert ist, sollen vor allem die ihnen zugewiesenen Rollen erfüllen. Sie sollen Menschen dabei assistieren, ihre moralische Entwicklung voranzutreiben. Gerade dies wird als große Herausforderung gesehen und es stellt sich die Frage, ob Roboter aus diesem Grund etwa menschliche Pflegekräfte wirklich ersetzen können.(Zhu 2020) Wichtig hierbei ist, dass Roboter nicht so designed werden sollten, dass sie menschliches Handeln ersetzen, sondern vielmehr, dass sie es komplementieren.(Wong 2019)

Exemplarische Personen im Konfuzianismus

Auch „Junzi“ genannt. Exemplarische Personen kommen in Regierungsrollen, indem sie Rituale kultivieren, bewusst die Rollen-Ethik einhalten und klassische konfuzianische Texte gut kennen. Sie dienen als Inspiration für andere und leiten die Gemeinschaften, deren Teil sie sind. Bildung wird als ein Mittel gesehen, durch welches das Selbst kultiviert wird und Menschen das Wissen erlangen, um nach den klassischen Regeln zu leben. Junzi besetzen Positionen der Macht und der Bürokratie. Ein Verständnis von Tugend wird zur Voraussetzung für Regierende und eine wichtige Komponente der Staatskunst.(Kirk/Lee/Micaleff 2020)

Im Konfuzianismus gilt es als lebenslanges Projekt, sich reflektierend mit den moralischen Beziehungen zu anderen auseinanderzusetzen und Werte durch diesen Prozess zu kultivieren. Das ultimative Ziel dieses Prozesses ist es, ein Junzi zu werden.(Zhu 2020) Junzis werden von „unbedeutenden“ Menschen unterschieden. Bei letzteren haben (noch) nicht die moralischen Codes Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Anstand und Weisheit Eingang in ihre Persönlichkeit gefunden. Eine Person kann laut konfuzianischen Denkern nicht als Person bezeichnet werden, solange sie kein moralisches Bewusstsein hat und es ihr nicht möglich ist, moralische Verantwortung zu tragen.(Gan 2020, 17f.)

Datenschutz und Privatsphäre in der konfuzianischen Ethik

Auch wenn es überraschen mag, so wird Datenschutz in China doch inzwischen großgeschrieben. Dies betrifft allerdings nur die im Land agierenden Unternehmen und nicht den Staat. Diesem ist es erlaubt, Daten seiner Bürger unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit und Stabilität zu sammeln und zusammenzuführen. Wenn Unternehmen jedoch gegen das öffentliche Interesse handeln und zu viele Daten der chinesischen Bürger sammeln, dann fühlt sich die Regierung dafür verantwortlich, einzuschreiten. Durch diesen Zwiespalt zwischen Kontrolle und freiem Sammeln von Daten wird eine Hierarchie zwischen Staat und Unternehmen geschaffen, in welcher die Regierung als diejenige Instanz etabliert wird, welche „es am besten weiß“.(Kirk/Lee/Micaleff 2020)

Erhebungen haben ergeben, dass chinesische Bürger weniger Wert auf ihre Privatsphäre legen und dass asiatische Kulturen Privatsphäre nicht als etwas intrinsisch Gutes ansehen. Im Gegenteil, das chinesische Wort für Privatsphäre – „yinsi“ – wird damit übersetzt, dass ein Individuum „etwas zu verbergen“ hätte.(ebd.)

So erklärt es sich, dass Bürger einen hierarchischen Blick auf das Thema annehmen und Überwachung und Zensur akzeptieren, wenn sie von der Regierung kommt. Aus konfuzianischer Sicht hat die regierende Klasse eine paternalistische, sich kümmernde Funktion für die Bevölkerung zu übernehmen. Im Gegensatz zum Westen ist nicht das Individuum für die Wahrung von eigenen Rechten und Interessen zuständig. Es ist vielmehr so, dass Gesellschaft als eine Erweiterung der Familie angesehen wird und einer höhere Autorität die Aufgabe zukommt, die entsprechend richtigen Entscheidungen für die Familie, Gemeinschaft oder Nation zu treffen. Die Sammlung allen Wissens in zentralen Händen wird also untermauert von einem konfuzianistischen Ideal einer hierarchischen Gesellschaft in welcher Sicherheit und Harmonie durch eine gut informierte Regierungsmacht durchgesetzt werden.(ebd.)

Teilhabe chinesischer Bürger an der Regierung

Menschen in China nehmen nicht im gleichen Sinne an der Meinungsbildung der Regierenden teil, wie dies in westlichen Demokratien der Fall ist. Trotzdem werden sie im Sinne des Konfuzianismus nicht dominiert oder in Unterordnung gezwungen. Regierungen sind nach konfuzianischen Regeln dazu verpflichtet, sich an die Anforderung ihres Volkes anzupassen. Nur wenn sie den Grundbedürfnissen der Bevölkerung folgt, gilt eine Regierung als legitimiert. Regieren ist erfolgreich, wenn so für die Menschen gesorgt wird, dass sie die Autorität des Herrschenden akzeptieren.(Kirk/Lee/Micaleff 2020)

Social Credit System und Überwachungstechnologie

Einzigartig in China ist die autoritäre Kontrolle und Bestrafung durch das neue Social Credit System, welche zum Beispiel mit Reise- und Konsum-Blacklists einhergeht. Bürger, die sich nicht wie gewünscht verhalten, können auf diese Listen aufgenommen und in ihren Handlungen stark eingeschränkt werden.(Kirk/Lee/Micaleff 2020)

Das Potenzial des Social Credit Systems wird durch die Aspekte der Digitalisierung noch verstärkt. Massenhafte Videoüberwachung inklusive Gesichtserkennung einschließlich der Analyse von Gesichtsausdrücken und Emotionen tun ihr Übriges. (ebd.)

Die Sammlung von digitalem Wissen durch das Social Credit System reguliert Einstellungen gegenüber Familie, Arbeit, Bildung und Finanzen. Sie monetisiert und nummerisiert Aspekte des persönlichen Lebens, welche die Regierung als hochwertig und wichtig ansieht. Chinesische Bürger werden hierdurch zu bestimmten Handlungen erzogen. Diese Erziehungsaufgabe ist im Sinne der konfuzianischen Tradition, welche der Möglichkeit, moralische Prinzipien der Richtigkeit zu etablieren, einen hohen Stellenwert einräumt. (ebd.)

In einer Studie aus dem Jahr 2015 ergab sich, dass mehr als 60 Prozent der chinesischen Bevölkerung die Idee des Social Credit Systems entweder unterstützen oder ihr gegenüber neutral eingestellt sind. (ebd.)

Während im traditionellen Konfuzianismus die Moralität eines Individuums auf der eigenen Integrität und dem Benehmen innerhalb von Beziehungen – vor allem der Familie – aufbaut, bezieht sich diese im digitalen Konfuzianismus auf einen Algorithmus, welcher die Korrektheit von nachvollziehbarem Verhalten berechnet. Kollektivismus wird so neu geschaffen. Die Punkte eines Bürgers werden nicht nur durch dessen eigene Meinung und Handlungen beeinflusst, sondern auch die ihrer Freunde und Bekanntschaften. So wird jeder zu einem Wächter der Tugendhaftigkeit, was die konfuzianische Tendenz wiedergibt, zwischenmenschliche Beziehungen als ein Mittel von höherem sozialen Wohlstand anzusehen. (ebd.)

Durch das Social Credit System werden Freundlichkeit und Mitgefühl für alle propagiert. Alle Handlungen werden zu öffentlichem Wissen und es soll sich so ein öffentlicher gemeinsamer Geist herausbilden. (ebd.)

Dabei baut das Social Credit System auf dem moralischen konfuzianischen Kernkonzept „credit“ auf, was sich sowohl mit Kredit, aber auch Ansehen oder Vertrauen übersetzen ließe. Es steht als eine Marke für die Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit einer Person. Gleichzeitig nutzt das Social Credit System konfuzianische Werte wie Scham, um Bürger zur Befolgung der Politik der Kommunistischen Partei und Xi Jinpings zu bewegen. So gibt es zum Beispiel große Monitore, welche Bürger zeigen, die gerade eine rote Ampel überquert haben und sie auch auf dem Bildschirm über die Zahlung einer Strafe informieren.(Clayton 2020)

Die konfuzianische Gesellschaft

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die konfuzianische Ethik einen hierarchischen Ansatz an die moralische Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft unterstützt. Je nach der jeweiligen moralischen Entwicklungsstufe gehören Menschen unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Gemeinschaft an. Deshalb stützen Konfuzianisten die Idee, dass intellektuell und moralisch Überlegene die Gesellschaft anleiten und führen. Dabei spielt die moralische Komponente eine stärkere Rolle bei der Wahl von Führungspersonen, als die Intellektuelle oder zum Beispiel das technische Wissen.(Zhu 2020)

Paternalistische Führung hat einen zentralen Stellenwert im Konfuzianismus. Während Paternalismus in westlichen liberalen Demokratien oft hinterfragt und kritisch gesehen wird, ist dies in der konfuzianischen Tradition nicht der Fall. Als fundamentalste Beziehung wird die zwischen Eltern und Kindern gesehen. Diese ist so grundlegend, dass sie auch als Metapher für das Denken über die Beziehung zwischen Regierendem und Regierten angewandt wird. So werden zum Beispiel Bürgermeister „fumu guan“ genannt – „fu“ heißt Vater, „mu“ Mutter und „guan“ heißt öffentlicher Verwalter. So wie Eltern ihre Kinder anleiten und lieben, so sollten auch Regierende dies bei den Bürgern tun.(Hung 2021, 58)

Der konfuzianische und westliche Blick auf Technologie und Internet unterscheiden sich hinsichtlich der zugrundeliegenden Werte immens. Harmonie und gesamtgesellschaftliche Hierarchien spielen im Konfuzianismus eine übergeordnete Rolle. Während im westlichen liberalen Demokratien vor allem das Individuum und persönliche Freiheit im Zentrum der Diskussionen der Technikphilosophie stehen, ist es in China die Gemeinschaft. Dieser haben sich Einzelne unterzuordnen, was auch teils mit Hingebung passiert. Dadurch wird eine bestimmte Vorsicht im individuellen Bereich, zum Beispiel beim Umgang mit dem Internet und den sozialen Medien, deutlich. Auch wenn sich hier in den letzten Jahren ein kleiner Mentalitätswechsel abgezeichnet hat.

Im Kollektiv werden Zensurmaßnahmen und paternalistisches Regierungsverhalten akzeptiert. Privatsphäre – ein wichtiger Faktor in der westlichen Diskussion – spielt in asiatischen Gesellschaften eine eher untergeordnete Rolle. Das Private und das Öffentliche verschwimmen und so wird die Handlungsmacht des Staates und der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen gerechtfertigt. Künstliche Intelligenz wird weit weniger kritisch gesehen, als im Westen – ihre als positiv empfundenen Aspekte haben in der Debatte in China ein höheres Gewicht.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich zukünftig eine tiefere Auseinandersetzung mit der konfuzianischen Ethik und ihrer Auswirkung auf die Einstellungen der Chinesen gegenüber Technologien der Neuzeit lohnt. China entwickelt sich zu einer immer stärkeren globalen Wirtschaftsmacht und gerade im digitalen Bereich und der künstlichen Intelligenz zum Vorreiter. Die Kommunistische Partei wird ihren autoritären Führungsanspruch nach Innen weiterhin mit der Propagierung eines neuzeitlichen Konfuzianismus mit seinen Rollenbildern und Ritualen ausbauen und so ihre Macht im Land festigen. Nach Außen tritt der chinesische Staat im Bereich der Internet Governance und künstlichen Intelligenz fordernd und aktiv auf. Dies wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten global eine tiefgreifende Auswirkung haben und andere Staaten weit mehr beeinflussen, als bisher vielleicht absehbar ist.


Video-Empfehlung: „Xi Jinpings Vision vom Internet in China – Der Durchblick“ von Arte

Lese-Empfehlung: Berberich, Nicolas; Nishida, Toyoaki und Suzuki, Shoko. „Harmonizing Artificial Intelligence for Social Good.“ In: Philosophy & Technology(33), 2020, 613-638. < https://link.springer.com/article/10.1007/s13347-020-00421-8 >


Quellen

Clayton, Kate. „Confucius technology and power consolidation under Xi Jinping.“ < https://www.thechinastory.org/confucius-technology-and-power-consolidation-under-xi-jinping/ > 2020 (03.10.2021).

Cypris, Maya. „Is Social Media endagering traditional Chinese Culture?“ < https://doi.org/10.1007/s10767-020-09370-8 > 2020 (19.08.2021).

Li, Chenyang. „Confucian Perpsectives on Science and Technology.“ In: Ethics, Science, Technology, and Engineering: An International Resource. 2. Ausgabe. < https://www.researchgate.net/publication/343413930_Confucian_Perspectives_on_Science_and_Technology > 2013 (20.09.2021).

Wong, Pak-Hang. „Confucian Social Media: An Oxymoron?“. In: Dao 12, 283–296 < https://doi.org/10.1007/s11712-013-9329-y > 2013 (22.09.2021).

Wong, Pak-Hang. „Dao, Harmony and Personhood: Towards a Confucian Ethics of Technology.“ In: Philosophy & Technology 25, 67 – 86 < https://link.springer.com/article/10.1007/s13347-011-0021-z > 2012 (29.09.2021).

Wong, Pak-Hang. „Rituals and Machines: A Confucian Response to Technology-Driven Moral Deskilling.“ In: Philosophies 4 (59) < https://doi.org/10.3390/philosophies4040059 > 2019 (14.09.2021).

Wong, Pak-Hang. „Why Confucianism Matters in Ethics of Technology.“ < https://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780190851187.001.0001/oxfordhb-9780190851187-e-36 > 2020 (09.08.2021).

Wong, Pak-Hang und Wang, Tom Xiaowei. „Introduction – Why Confucian Ethics of Technology?“ In: Wong, Pak-Hang und Wang, Tom Xiaowei (Hrsg.). Harmonious Technology – A Confucian ethics of technology. London und New York: Routledge. 2021.

Xiaohong, Wei und Quingyuan, Li. „The Confucian Value of Harmony and its Influence on Chinese Social Interaction.“ In: Cross-Cultural Communication 9 (1), 60 – 66 < http://cscanada.net/index.php/ccc/article/viewFile/j.ccc.1923670020130901.12018/3618 > 2013 (04.10.2021).

Zhu, Qin; Williams, Tom und Ruchen, Wen. „Confucian Robot Ethics.“ In: Wittkower, D. (Hg.). 2019 Computer Ethics – Philosophical Enquiry (CEPE) Proceedings. < https://digitalcommons.odu.edu/cepe_proceedings/vol2019/iss1/12 > 2019 (16.09.2021).

Zhu, Qin. „Ethics, society, and technology: A Confucian role ethics perspective.“ In: Technology in Society < https://doi.org/10.1016/j.techsoc.2020.101424 > 2020 (09.09.2021).

Schreibe einen Kommentar